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Lale Akgün und Matthias Platzeck in der Bibliothek.

© Andreas Klaer

Kultur: Leberkäseland Platzeck und Akgün lasen

in der Bibliothek

Stand:

Ein Ministerpräsident bleibt natürlich immer ein Ministerpräsident, eine SPD-Bundestagsabgeordnete ebenfalls. Am Montag gab es in der Stadt- und Landesbibliothek eine Lesung mit Matthias Platzeck und Lale Akgün, Autorin und islampolitische Sprecherin der SPD im Bundestag. Ihr schnurriges Buch „Tante Semra im Leberkäseland: Geschichten aus meiner türkisch-deutschen Familie“ war im Oktober im Krüger Verlag erschienen. Seitdem soll sich die 1953 in Istanbul geborene Türkin mit deutschem Pass seit 1981 vor Einladungen nicht mehr retten können. Sechzig Lesungen zum Buch hätte sie bereits hinter, zwanzig noch vor sich. Bedenkt man, dass ihr dabei Koryphäen wie Kurt Beck, Wolfgang Thierse und Wolfgang Tiefensee vor zig hunderten Hörern zur Seite standen, musste ihr (wie sie nachträglich kundtat) das doppelte Dutzend Zuhörer unter diem Bibliotheksdach eher gering erscheinen. Die SPD-Fachfrau für Migration ließ auch keinen Zweifel daran, dass die staatspolitische Ausländerintegration westlich der Elbe viel weiter sei als hierzulande: Zustimmung für ihr Opus dort von allen Zungen! Und offenbar so wenig kultureller Konfliktstoff, wie in ihrem Buch zu stehen scheint.

Weil ein Ministerpräsident immer auch ein Politiker bleibt, gehört sein Eingangs-Statement hierher: Er fand, dass in seinem Hoheitsgebiet, „wenn man von der Gastronomie absieht“, eigentlich nur wenige Türken leben. Durch Freundschaft in Kleinasien geschult, gab er sich in den deutsch-türkischen Sitten recht eingeweiht. Tante Semras haarsträubende Geschichten lobte er samt Autorin in samtigen Worten weit über den Klee, auch wenn sie gelegentlich an die weithin entschärfte Literatur der DDR erinnerten. Seine Empfehlung: Im Zweifelsfall sei es besser, dieses Buch zu lesen, als immer nur zu reden. Matthias Platzeck, Anzug, Binder, Weste, las mit mehr Einsatz, als man einem vielbeschäftigten Oberhaupt zutrauen wollte.

Heiter-erheiternd ist ja allemal, was die vollintegrierte Politikerin, seit 1962 in Deutschland, über ihre „Familie“ (wer weiß, wen sie da alles meint) so betont humorvoll mitzuteilen wusste. Keine Frage, sie ist ein Schreib-Talent, doch ob diese Geschichten auch allesamt der Realität entsprechen?

Ihre eigene Sippe besteht erst mal aus einem Vater mit links-sozialdemokratischem Hintergrund, von Beruf aus Zahnarzt, und einer Mutter, die zwar Mathematik studierte, aber dann Hausfrau blieb. Keiner der beiden ist ausübend Mohammedaner. Dann gibt es noch Tante Semra, keine echte Tante der Autorin, aber eine so originelle Sympathieträgerin, dass ihr unkonventioneller Lebensstil wirklich Jedermann irritiert. Sie wagte zwar den Gang nach Mekka, fand aber (die meisten der vorgelesenen Geschichten spielen in den 60er Jahren) stets Gründe, gewissen religiösen Pflichten auszuweichen: Weil Fernreisenden ein paar davon erlassen werden, macht Semra just zum Ramadan eine Kreuzfahrt. Ihre Vorliebe für deutschen Leberkäse, jedem Moslem verboten, rechtfertigt sie so: Da ist Leber, hier ist Käse, und wo ist nun das Schweinefleisch?

Genosse und Genossin lasen die Storys, der Chef freilich ließ es sich nicht nehmen, ein Kapitel frühen Klassenkampfes persönlich vorzutragen. Warum dieses Buch aller Politiker Lieblingskind ist, liegt auf der Hand. Integration („Hurra, wir werden deutsch!“) wird groß-, wirkliche Konflikte werden kleingeschrieben. In der Bewältigung des Alltags haben alle ähnliche Probleme, sprach Herr Platzeck. Na, darum geht es ja auch.Gerold Paul

Gerold PaulD

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