Kultur: Literarische Lebensentwürfe
Das Schreiben und sein Verhältnis zum Leben: Die 4. Potsdamer Literaturnacht
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Das Schreiben und sein Verhältnis zum Leben: Die 4. Potsdamer Literaturnacht Sollte Christine Anlauff jemals an die Ernsthaftigkeit des literarischen Schreibprozesses geglaubt haben, so hat sie dieser Glaube spätestens bei Erscheinen ihres ersten Romans endgültig verlassen. Ihre Beschreibung der Entstehungsgeschichte eines Buchs lässt jedenfalls keinen Raum für die Illusion des in der Abgeschiedenheit seines Kämmerleins genialisch vor sich hinschreibenden Einzelgängers. Die Potsdamer Autorin, deren Roman „Good Morning, Lehnitz“ in diesem Jahr erschienen ist, plauderte bei der Potsdamer Literaturnacht am Sonnabend, die in diesem Jahr unter dem Motto „ÜberLeben Schreiben“ stand, ebenso munter über ihre Erfahrungen mit Verlagen und Lektoren. Dabei trug Anlauff den Anfang ihren Debütantinnenromans gleich zweimal vor. Zuerst in seiner ursprünglichen Version, danach so wie ihn der Lektor haben wollte. Kaum eine Zeile war geblieben. Ebenso selbstkritisch wie -ironisch ordnete die quirlige Schriftstellerin den anhaltenden Applaus der lektorierten Fassung zu. Dabei stellte sie bereits den ursprünglichen Schreibvorgang als gemeinschaftlichen Arbeitsprozess dar, an dessen Ende sie „ganz Potsdam West“ die Manuskripte vorgelesen habe. Die Kritik ihrer Schwester, das Buch habe „irgendwie vierte-Klasse-Niveau“ habe ihr Übriges getan. Trotz und wegen der teilweise harschen Kritik schreibt sie derzeit an ihrem zweiten Roman. In ihrer lakonisch-pragmatischen Art hat sie sich schon damit abgefunden, dass ihr Verlag sie auf die „Ost-Pop-Schiene“ gesetzt hat. Das neue Buch spielt wieder in der Wendezeit. Weil Anlauff jedoch keinesfalls verbittert ist, sondern alle Widrigkeiten mit der heiteren Art hinnimmt, die sich in ihren Büchern widerspiegelt, verspricht auch ihr neuer Roman vergnüglich zu werden. Selbst wenn Anlauff aus ihrer künstlerischen Motivation keinen Hehl macht: „Ick brauch'' det Jeld“. Schreiben um zu leben. Der zweite Roman ist nach Aussage Rainer Simons immer der schwierigere. Der zur schreibenden Zunft übergewechselte Regisseur las aus seiner Autobiographie und seinem ersten Roman „Regenbogenboa“. Für seinen Genrewechsel führte der von Südamerika faszinierte Regisseur an, dass ihm die Thematik für einen Film zu persönlich sei. „Mein Denken ging in meine Schrift“, heißt es in seinem Roman: Schreiben über das (eigene) Leben. Lyrik bildete den Abschluss des Programms, das unter freiem Himmel stattfand. Michèle Métail stand mit ergrautem Haar und unverkennbar französischem Akzent auf der Bühne und las Gedichte über Berlin. Doch mehr: Das unerbittliche Stakkato ihrer Lyrik verband sich über dem Innenhof des Kutschstalls mit eingespielten Geräuschen aus dem Straßenleben; auf einer Leinwand waren Schwarz-Weiß-Fotografien zu sehen. Alle drei Ebenen gehören zusammen, auch was den verschwommen kryptischen Charakter angeht, aus dessen Unschärfe die Bedeutung der Zeichen erwächst. Was entsteht ist ein Strom sich wechselseitig erhellender Künste, eine Performance, die das vereinzelte Gemurmel und Gelächter, das sich zuvor noch mit Métails lyrischer Chinareise vermischt hatte, verstummen ließ. Zu später Stunde wurde der Sommerabend zur literarischen Nacht, der Text zur Partitur. Deshalb lag er auf einem Notenständer, von dem die Autorin, derzeit Samuel-Fischer-Professorin an der Freien Universität, mit höchster Konzentration ablas und nicht ein einziges Mal aufschaute. Sie, die aus Abneigung gegen Übersetzungen Chinesisch lernte, liest ihre Texte selbst in von fremder Hand vorgenommener Übersetzung mit einer Ernsthaftigkeit, die keinen Zweifel daran lässt, wessen Lyrik hier vorgetragen wird. Diese ist tief im Alltag ihrer zeitweiligen Heimat Berlin eingewurzelt - und erhebt sich dennoch darüber hinaus. Schreiben als Schweben über dem Leben. Moritz Reininghaus
Moritz Reininghaus
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