Kultur: Literaturmarathon: Deutschland hörte weg
Man lernt die Ruhe und Abgeschiedenheit im Hinterhof des Hauses der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte zu schätzen, kennt man das Getöse und Geschiebe auf der Futter- und Festmeile. Hier in dem Museumsinnenhof verlieren sich am Vormorgen des Einheitstages kaum Literaturinteressierte.
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Man lernt die Ruhe und Abgeschiedenheit im Hinterhof des Hauses der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte zu schätzen, kennt man das Getöse und Geschiebe auf der Futter- und Festmeile. Hier in dem Museumsinnenhof verlieren sich am Vormorgen des Einheitstages kaum Literaturinteressierte. Auf der Bühne verbreitet Moderatorin Carmen Krickau gute Laune, als ob sie Nylonstrümpfe loswerden möchte, und die ebenfalls wohlgelaunte Tina Tandler am Saxophon springt durch die noch leeren Reihen und versucht anzuspielen, wer sich gerade niedergelassen hat. An den Flanken warten Versorgungsbuden. „Deutschland hört zu“ ist der Lesemarathon überschrieben. Am Sonntag jedenfalls hörte Deutschland erst mal weg. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen fehlten die Zugpferde, Harry Rowohlt kam erst gar nicht. Auch Wolfgang Leonard, der letzte Überlebende der Gruppe Ulbricht, hatte bereits vor einer Woche aus Unzufriedenheit mit dem Veranstalter seine Zusage revidiert. Wo waren also die großen deutschen Autoren, wo die erste Garde der Talente am Jubiläumstag der Einheit? Das Programm wurde ohne den Kontakt zu den bedeutenden Verlagen gestrickt. So wurden weite Teile des Nachmittags von den Landesvorsitzenden und ihren Stellvertretern des Verbands deutscher Schriftsteller bestritten. Die Frohrieps (Mecklenburg-Vorpommern), Sauerbiers (Thüringen) und Routscheks (Brandenburg) mögen Verbandskennern etwas sagen, ihre Namen vermochten jedoch nicht, das Land wenn schon nicht zum Lesen, dann wenigsten zum Zuhören zu bewegen. Dazwischen wusste die stellvertretende Landesvorsitzende aus Berlin, Monika Ehrhardt-Lakomy, geschickt auch noch ihre „Traumzauberbaum“-Gedichte zu platzieren. Denn der Traumzauberbaum wird 25 Jahre alt. Du bist Deutschland, du bist der Traumzauberbaum! Sicher übernahm Michael Meinicke die undankbarste Aufgabe, er musste den „Lesemarathon“ beginnen. Der Autor, der im Kofferraum aus der DDR geschmuggelt wurde, las aus seinem Roman „Ostkreuz“. Ein Jugendlicher im Ostberlin der 70er. Rockbands werden observiert, wie der Lyrikclub Pankow oder der berühmte Fasching in der Kunsthochschule Weißensee. Als Michael Wildenhain gerade seine sensible Coming-out-of-Age Geschichte „Russisch Brot“ vortragen wollte, schob sich ein LKW langsam auf den Hof, um ein Dixi-Klo zu liefern. „Wir schaffen saubere Verhältnisse.“ Bei Wildenhain sind diese indes unklar. Joachim, aus dem Westen, verliebt sich in seine undurchsichtige Cousine Doris aus dem Osten. Dennoch: das Programm bot auch Einblicke in deutsche Befindlichkeiten. Die Journalistin Simone Schmollack sammelte Ost-West-Liebesgeschichten. In „Du West-Schwein“ trennt Sabine aus der ostdeutschen Provinz sich vom selbstbewussten Albert, weil er endlich zur Tagesordnung zurückkehren möchte, sie jedoch befürchtet, dass damit ein Teil ihrer Identität verschwinden würde. Als Radio-Eins Moderator Andreas Ulrich eine seiner 25 gesammelten Lebensgeschichten über die Swinemünder Straße in Berlin vorstellte („Zwei Kilometer Deutschland“) und schließlich der Eulenspiegelautor Matthias Wedel mit Matthias Biskupek über „Pflaumen aus dem Osten“ witzelten, da hörte dann Deutschland doch endlich zu. M. Hassenpflug
M. Hassenpflug
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