Kultur: Lust an der Demaskierung
Auftakt der 17. Potsdamer Tanztage in der fabrik mit „Au Nombre des Choses“ von Serge Ricci
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Helle Balken tanzen wie Streichhölzer über die Bühne. Kaum zu erkennen im flackernden Scheinwerferlicht formieren sie sich zu immer neuen Mustern, so wie die Fragmente im Kaleidoskop sich neu zusammenfügen, wenn man es schüttelt. Dieses Kaleidoskop aber scheint zu atmen. Wie von Geisterhand wippen die Streichhölzchen nebeneinander, umkreisen sich, bilden eine schlängelnde Linie, verschwinden fast, treten dann wieder hervor. Und verändern sich: werden zu beweglichen Gliedmaßen, zu Armen, Schenkeln, Waden. Ein Frosch entsteht, ohne Rumpf und Kopf – oder ist es ein Äffchen, ein Mensch in der Hocke? In jedem Fall: ein Zauberspiel. Seine Magie nimmt es aus dem überraschenden Wandel, der ständigen Bewegung von einer Form zur nächsten.
„Au Nombre des Choses“ heißt die Produktion von Serge Ricci und seiner Compagnie Mi-Octobre, die am Mittwoch den Auftakt zu den 17. Potsdamer Tanztagen in der fabrik gab. „Über die Anzahl der Dinge“ kann man das übersetzen, oder auch: „An die Anzahl der Dinge“. Der Abend ist beides. Zum einen eine Ode an die Vielgestalt der Dinge, die uns umgeben, ein spielerisches Aufreihen von einigen gewöhnlich als tot bezeichneten Objekten, die unseren Alltag bevölkern. Warum nicht Teppichen zum Beispiel ein Eigenleben zugestehen? In einer Szene ist die Bühne mit blumigen Persern ausgelegt. Auf ihnen suhlt sich eine teddybärige Gestalt, dessen Kunstfell aus dem gleichen Stoff gemacht ist. Wer imitiert hier wen? Neben heiter-absurden Momenten wie diesen ist „Au Nombre des Choses“ aber auch ein Nachdenken darüber, was wir in leblose Dinge hinein projektieren. Die „Dinge“ sind hier vor allem: Kleider. Also die Gegenstände, die uns am unmittelbarsten begleiten, mit denen wir uns am meisten identifizieren. Was verändert sich, wenn wir unsere Hüllen verändern – und was bleibt, wenn sie fallen gelassen werden? Die Antwort, die Ricci andeutet ist so naheliegend und einfach, wie sie szenisch berührend ist: Ein nackter, ungeschützter Mensch.
Wie schwierig es ist, zu einer Menschlichkeit vorzudringen, die sich aller Verstecksmöglichkeiten entledigt hat, zeigen die vier Tänzer, in dem sie sich immer wieder neu verhüllen. In erstaunlicher Geschwindigkeit ziehen sie sich an, aus und um, tauschen Kostüme und Rollen. Wie schon in der Streichholz-Szene am Anfang sind die spannendsten Momente die des Wandels, wenn das Sich-Entpellen selbst thematisiert wird. In einer Szene etwa entwindet sich ein Tänzer seinem eng anliegenden schwarzen Ganzkörperkostüm, als sei es eine Schlangenhaut und streift sie in enger Umschlingung einem anderen Tänzer über. Während der Erste aufrecht und nackt von der Bühne schreitet, schlängelt sich das Kostüm in seinem neuen Träger zur Seite.
Maskierungen sind bei Ricci nicht von Dauer, sie laden vielmehr zur Enttarnung, zur Denunzierung ein. Das gilt auch für das Finale, den triumphalen Höhepunkt selbstinszenierender Verkleidung. „You''re just too good to be true/ Can''t take my eyes off you“ dröhnt Frankie Valli aus den Boxen, während die drei Männer und die Frau von Mi-Octobre in schwarz-weißer Einheitstracht und hohen Pumps über die Bühne stolzieren. Erst sind die schwarzen Perücken und rhythmisch wiegenden Hüften nur von hinten zu sehen. Als sie sich aber umwenden, blickt man in drei weiß-maskierte Gesichter und die schreckhaft geweiteten Augen der Tänzerin Alexandra Gilbert. Die scheinbar perfekte Disko-Inszenierung des Pop-Hits entlarvt sich als alptraumhafte Parade von gesichtslosen Aufziehpuppen.
In ihren Eröffnungsreden vor der Aufführung im Spiegelzelt hatten Sabine Chwalisz und Sven Till, die künstlerischen Leiter der fabrik, vor allem zwei Dinge betont. Zum einen wolle das Festival bekannte Dinge in ein neues Licht stellen, den Zuschauern „die Steine wieder steinig machen“. Zum anderen mit der dem Tanz eigenen Hingabe an den Augenblick Probleme zwar nicht lösen, aber durch ihre Darstellung zum Nachdenken anregen. Mit „Au Nombre des Choses“ ist beides gelungen. Und das war ja erst der Anfang.
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