Kultur: Mädchen ohne Erinnerung
Philip Singtons Roman „Das Einstein-Mädchen“
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Potsdam spielt in Philip Singtons Roman „Das Einstein-Mädchen“ eine unrühmliche, aber für den Verlauf der Geschichte nicht unerhebliche Rolle. Als Polizisten eine bewusstlose und stark unterkühlte Frau in ein Potsdamer Sanatorium einliefern, kommt es zu einem folgenschweren Behandlungsfehler. Das Personal legt die junge Frau kurzerhand in ein heißes Bad, der Körper reagiert entsprechend. „Die junge Frau erlitt einen Krampfanfall. Die Schwestern des Sanatoriums verhinderten, dass sie sich an ihrer eigenen Zunge verschluckte. Dann weiteten sich ihre Pupillen und sie fiel in tiefe Bewusstlosigkeit ... Als sie schließlich das Bewusstsein wiedererlangte, hatte sie ihr Gedächtnis verloren. Sie wusste nicht einmal ihren Namen.“
Wir schreiben das Jahr 1932. Die beiden Jungen Hans und Ernst hatten während eines Radausflugs an einem Samstag Ende Oktober nahe Caputh die junge Frau im Wald gefunden. Halbnackt, durchnässt und mit blutigen Schrammen an den Beinen. Neben ihr im Schlamm liegt ein Zettel, der für einen Vortrag in der Berliner Philharmonie wirbt. Das Thema: „Der gegenwärtige Stand der Quantentheorie“. Der Redner: Albert Einstein. Es ist dieser Werbezettel, der dieser jungen Frau ohne Gedächtnis einen neuen Namen gibt: Das Einstein-Mädchen.
Durch einen Zufall entdeckt der Psychiater Martin Kirsch die geheimnisvolle Patientin, die nach der fatalen Behandlung in Potsdam in die Charité eingeliefert wurde. Es ist für diesen jungen Arzt, in dessen Seele das Leben schon tiefe Wunden gerissen hat, ein unerwartetes Wiedersehen. Kirsch, der nach außen den gutbürgerlichen Schein wahrt, seine Hochzeit mit der ehrenhaften Alma plant, fühlt sich angezogen von den dunklen und morbiden Seiten im Berlin der 1930er Jahre. Er spaziert durch die verdreckten Arbeiterviertel, besucht zwielichtige Etablissements und begegnet bei einem seiner langen und einsamen Spaziergänge einer jungen Frau, die ihn vom ersten Moment an fesselt. Er sieht sie wieder. Auf dem kleinen Balkon einer Pension, wo sie ein Zimmer gemietet hat. Im Café Tanguero. Dort tanzt er mit der Unbekannten, küsst sie gar und wird dabei von einem Gefühlschaos übermannt, das er bis dahin noch nie erlebt hat. Nicht einmal mit seiner zukünftigen Ehefrau Alma.
Fast möchte man hier von überstrapazierten Zufällen sprechen, die Autor Philip Sington in seinem Roman für eine etwas zu arg romantisierende, noch zart erblühende Liebesgeschichte bemüht. Doch Kirschs nächstes Treffen mit der schönen Unbekannten nach Tanz und Kuss im Café Tanguero ist das schon erwähnte Wiedersehen in einem der Krankenzimmer der Charité. Auf der einen Seite der Arzt, der nicht sagen kann, dass er die junge Frau kennt, ohne sich zu diskreditieren. Auf der anderen das „Einstein-Mädchen“, das sich an nichts mehr erinnern kann. Kirsch macht sich nun daran, dass Geheimnis um die Unbekannte zu lüften. Und es soll sich bei seinen Recherchen zeigen, die ihn über Zürich bis nach Serbien führen, dass der Name „Einstein-Mädchen“ mehr ist als nur ein Hinweis auf den schlammverkrusteten Werbezettel, der neben ihr im Caputher Forst gefunden wurde.
Philip Singtons „Einstein-Mädchen“ ist ein spannungsreicher Roman geworden, in dem der Autor geschickt Zeitläufte mit Forschungen aus Medizin und Wissenschaft verbindet. Dass Sington Geschichte studiert hat, merkt man dem „Einstein-Mädchen“ deutlich an. Hier hat sich der Autor intensiv mit den 1930er Jahren in Deutschland beschäftigt. Die Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges, das langsame Sterben der Weimarer Republik, der unheilvolle Aufmarsch der Nationalsozialisten, all das ist für Sington nicht einfach nur Kulisse für die Suche nach der Identität und somit der Geschichte einer jungen Frau. „Das Einstein-Mädchen“ ist auch ein Buch, das den Leser mitnimmt in diese Zeit und das die Mentalitäten der Menschen, ihre Traumata und Verblendungen offen legt. Hinzu kommt, dass Sington für seine Handlung nicht nur auf Fiktion zurückgreift.
Ende der 80er Jahre wurde der Briefwechsel zwischen Einstein und seiner ersten Frau, der serbischen Mathematikerin Mileva Maric veröffentlicht, in dem auch von einer unbekannten gemeinsamen Tochter die Rede ist. Das Mädchen kam 1902, ein Jahr vor der gemeinsamen Hochzeit, zur Welt. Was aus dieser unehelichen Tochter geworden ist, ob sie früh verstarb oder zur Adoption freigegeben wurde, ist nicht bekannt. Philip Sington hat diese Anekdote aufgegriffen und daraus einen Thriller gemacht, der im Schafspelz des Romans daherkommt. Dirk Becker
Philip Sington: Das Einstein-Mädchen Roman, dtv premium, München 2010, 464 Seiten, 14,90 Euro
Dirk Becker
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