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Fünfmal sterben, viermal auferstehen. Die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck.

©  Katharina Behling

Die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck erhält den "Kleinen Hei": „Manchmal ist er Zufall“

Wir können Dinge beginnen, können sie ändern, da ist so viel offen.“ Jenny Erpenbeck über Leben, Tod und Zufall – Am Donnerstag erhält sie den „Kleinen Hei“ Wie das ist, einen beliebigen Augenblick in einen letzten zu verwandeln.“

Stand:

Frau Erpenbeck, lassen Sie uns über den Zufall reden.

Ich glaube nicht, dass es den einen, den besonderen Zufall gibt. In unserem Leben passieren so viele verschiedene Dinge auf den unterschiedlichsten Ebenen – Gedanken, Blicke, Erinnerungen, Entscheidungen, Begegnungen. Aber immer erst wenn irgendetwas Besonderes passiert, bezeichnet man eine Sache aus diesem ganzen Universum als Zufall.

Und wie passt der Tod in dieses Universum?

Manchmal ist er Zufall. Manchmal zeichnet er sich beispielsweise bei einer schweren Krankheit aber schon lange ab. Dass wir irgendwann sterben müssen, ist uns ja allen bewusst. Aber wenn dann der Tod eintritt, ist das immer eine ganz individuelle Geschichte. Und oft sieht es dann so aus, als ob das Leben durch den Tod eine andere Bedeutung bekommt. Aber letztendlich ist das Leben zuerst einmal einfach nur das Leben. Die Bedeutung, die man ihm im Rückblick oft gibt, entspringt meiner Meinung nach vor allem dem Bedürfnis der Menschen, alles in ein System einordnen zu können, dem Ganzen dadurch einen Sinn zu geben.

In Ihrem Roman „Aller Tage Abend“, für den Sie am morgigen Donnerstag den Potsdamer Literaturpreis „Der Kleine Hei“ bekommen, lassen Sie Ihre Heldin fünfmal sterben und viermal wiederauferstehen. Warum dieses variationsreiche Spiel mit Leben und Tod und Zufall?

Mich hat diese Bewertung eines Lebens interessiert, das es durch den Tod erhält. Wie das ist, einen beliebigen Augenblick in einen letzten zu verwandeln. Eine Biografie so zu verändern, dass sie an verschiedenen Punkten endet. Und ich habe dabei festgestellt, dass der Tod ja im Grunde der Moment ist, in dem man darüber nachdenkt, wer dieser Mensch überhaupt war. Wir also versuchen, ein Fazit dieses Lebens zu finden. Wenn dann dieser Tod aber an verschiedenen Punkten, zu verschiedenen Zeiten stattfindet, ist dieser Mensch in seiner Entwicklung, in seiner Bewegung und in seinen Möglichkeiten plötzlich anders zu erzählen, als wenn seine Biografie geradlinig verläuft und ihr logisches Ende findet. Ich hatte das Gefühl, dass sich durch diese Unterbrechungen die unterschiedlichen Möglichkeiten eines Lebens, die dadurch entstehen, auch gegenseitig kommentieren. Und dann stellt man fest, dass allein in einer Biografie Hunderte Biografien stecken können.

Der Tod also nicht als ein Schlusspunkt?

Ich habe festgestellt, dass der Tod so viele Auswirkungen und Folgen für das Leben hat, dass ich gerade diesen Aspekt so interessant finde: Den Tod vom Lebendigen her betrachten. Dass, was er für die bedeutet, die im Leben bleiben. Manchmal bleiben durch den Tod Geheimnisse unausgesprochen oder es werden Dinge ausgesprochen, über die sonst nie geredet wurde.

In „Aller Tage Abend“ durchschreiten Sie wie schon in ihrem Roman „Heimsuchung“ anhand von Biografien das 20. Jahrhundert mit seinen starken Brüchen. Das ist das galizische Schtetl um 1900, das Nachkriegs-Wien von 1919, Moskau zu Zeiten der stalinistischen Schauprozesse Ende der 30er Jahre, dann die DDR und später die Wende. Ein Thema, das Sie nicht loslässt, das zu einem literarischen Grundthema geworden ist?

Ich fange bei solchen Erzählungen ja immer bei meinem eigenen Leben und meinem Umfeld an, schaue dann vorwärts und rückwärts und bin dann automatisch im 20. Jahrhundert. Mich hat natürlich eine Biografie interessiert, die durch die Stationen und Entscheidungen auch sehr abwechslungsreich ist. Ich werde aber sicherlich nicht nur bei diesem Thema bleiben, würde gern mal wieder eine Art Kammerspiel schreiben. Denn immer in einem Roman das gesamte 20. Jahrhundert, diese gewaltige Panorama im Auge zu behalten, ist nicht leicht, oft auch sehr erschöpfend. Ich musste viel lesen, viel recherchieren, um überhaupt erst einmal zu wissen, wie die grundlegenden Lebensumstände der Menschen zu den verschiedenen Zeitpunkten überhaupt gewesen sind.

Was hat den Ausschlag für „Aller Tage Abend“ gegeben, also diese doch intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Tod?

Ich habe einfach jemanden durch den Tod verloren und ich habe dann drei, vier Jahre über nichts anderes nachgedacht. Und da ich nur ein Buch darüber schreiben kann, worüber ich nachdenke, ist mir gar nichts anderes übrig geblieben.

In einer Rezension zu „Aller Tage Abend“ war zu lesen, dass in dem Roman die Geschichte Ihrer Großmutter Hedda Zinner zu erkennen ist.

Ich habe für den Roman Material aus der Biografie meiner Großeltern genommen, deren Lebensstationen als Vorlage genutzt. Aber die Geschichten, die ich da erzähle, sind zum größten Teil nicht die Geschichten meiner Großeltern. Meine Großmutter war zwar in der Emigration, ist aber nie verhaftet worden, war nie in einem Lager. Auch mein Großvater nicht.

Sie beschreiben den Menschen in unterschiedlichen Situationen. Immer aber sind es politische und gesellschaftliche Prozesse, denen er fast hilflos ausgesetzt scheint. Ist der einzelne Mensch letztendlich immer nur Spielball im großen Gefüge dieser Zeitläufe?

Ich denke, der Mensch hat Wahlmöglichkeiten, aber manchmal sind die Umstände so, dass diese Wahlmöglichkeiten nicht sehr groß sind. Und nicht jeder Mensch ist ein Held.

Was meinen Sie damit?

Wenn Menschen existenziell bedroht werden, verhalten sie sich unterschiedlich. In dem Stalinismuskapitel in „Aller Tage Abend“ hat mich vor allem interessiert, wie sich Menschen unter dieser existenziellen Bedrohung gegenüber anderen verhalten. Und ich glaube, dass wir uns fast alle so verhalten würden, wie die Menschen in meinem Roman, also zuerst einmal versuchen, sich selbst und die Leute, die ihnen nah sind, zu retten.

Bei all diesen Unwägbarkeiten ist das Leben letztendlich dann nur die Ungewissheit darüber, was als nächstes kommt?

Ja, aber diese Ungewissheit hat auch ihr Gutes. Wir können Dinge beginnen, können sie ändern, da ist so viel offen . Es ist einfach auch interessant zu sehen, was einem im Leben widerfährt. Dass damit auch Schattenseiten verbunden sind, ist die eine Sache. Trotzdem möchte ich nicht in die Zukunft schauen können.

Das Gespräch führte Dirk Becker

Jenny Erpenbeck erhält für „Aller Tage Abend“ (Albrecht Knaus Verlag, 19,99 Euro) den Potsdamer Literaturpreis „Der Kleine Hei“ am morgigen Donnerstag um 20 Uhr im Literaturladen Wist, Brandenburger/Ecke Dortustraße. Der Eintritt zur Lesung und Preisverleihung kostet 5 Euro

Jenny Erpenbeck, geb. 1967 in Berlin, ist Schriftstellerin und Regisseurin.

Von 1988 bis 1990 studierte Jenny Erpenbeck Theaterwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. 1990 wechselte sie zum Studium der Musiktheater-Regie zur Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin.

Im Jahr 1999 erschien ihr Debüt „Geschichte vom alten Kind“. Für ihren im Frühjahr erschienenen dritten Roman „Aller Tage Abend“ wird Jenny Erpenbeck mit dem Potsdamer Literaturpreis „Der Kleine Hei“ ausgezeichnet.

Jenny Erpenbeck lebt in Berlin. PNN

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