Von Klaus Büstrin: Masse und Klasse
Bachs Matthäus-Passion wurde vom Orchester und Chor der Universität Potsdam aufgeführt
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Felix Mendelssohn Bartholdy kommt das große Verdienst zu, Bachs Vertonung der Matthäus-Passion wieder nach 100 Jahren Vergessenheit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu haben. Mit einer Monumentalaufführung. „Die Leute staunten, gafften, bewunderten , dass solch ein Werk existierte“, schrieb Mendelssohns Schwester, Fanny Hensel. Die Wiederaufführung fand 1829 in keiner Kirche statt, sondern im Haus der Berliner Singakademie mit 185 Sängerinnen und Sängern.
Chor und Orchester der Universität Potsdam, Campus Cantabile und Sinfonietta Potsdam, haben sich nun der Mendelssohn’schen Fassung mit ihren harten Partitur-Eingriffen zugewandt. Die Fokussierung des dramatischen Passionsberichts sollte im Vordergrund stehen. Der Komponist strich mit 22 Sätzen fast ein Drittel des Gesamtwerks.
Die Wahl eines Konzertsaals und das große Aufgebot von Chorsängerinnen und -sängern – neben den Universitätsklangkörpern teilten sich die vocal concertisten und der Kinderchor des ev. Gymnasiums Hermannnswerder die Bühne – folgten ebenfalls der Tradition der Wiederaufführung.
Äußerlich nahm man im Nikolaisaal an einer Aufführung der eher gemütlichen Art teil. Manche haben es sich sogar kuschelig gemacht. Der Konzertraum ist, anders als die meisten Kirchen, ja gut temperiert, die Sitze gepolstert und zudem hatte sich Dirigent Kristian Commichau entschieden, das unerbittliche Fortschreiten dieses Passionsdramas zu unterbrechen. Es gab eine ausgiebige Pause mit Gelegenheit, sich bei einem Glas Prosecco und einer Brezel zu erholen – kurz nachdem Jesus am Ölberg ergriffen und von allen Jüngern verlassen wird. Von sakraler Atmosphäre war da kaum etwas zu spüren.
Die äußeren Umstände schmälerten jedoch nicht die mitreißende Musizierfreude der mehr als 250 Mitwirkenden. Wie sich die Hundertschaften über die Sinfonietta Potsdam aufbauten, so wölbte sich ausdrucksvoll der Klang in den Nikolaisaal hinein. Kristian Commichau ist keiner, der mit Chormasse überwältigt, er setzte bei der ersten Aufführung am Freitagabend vielmehr auf ein in der Dynamik differenziertes Klangbild. Prachtvoll, frisch und flexibel wurde gesungen. Im Eingangschor entfaltete sich ein flächiger, aber nie dicker Chorklang, der zugleich schwingend war und genügend Raum ließ für den Cantus firmus, gesungen vom Kinderchor (Einstudierung: Matthias Salge). Besonders im Choral „O Mensch, bewein dein Sünde groß“ gab er bewegend „den Ton an“. Die Choräle empfand Commichau zumeist nicht als neutrale Kommentare, sondern als emotionales Reagieren auf das Leiden und Sterben Jesu, auf des Menschen Unzulänglichkeiten und als Trostspender. Zugleich bildete der Dirigent starke Akzente in den Turbaechören aus. Das „Ja nicht auf das Fest“ oder „Lass ihn kreuzigen!“ kam in böser Schärfe. Aber die wurde aufgelöst in einer grandiosen Steigerung über dem Chorsatz „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen“. Leider ging jedoch der Einsatz des wichtigen „Barrabam“-Rufes daneben.
Mendelssohns Fassung hält nur wenige Arien parat. Somit findet selten eine meditative Spiegelung des Geschehens statt. Leider musste man ja auch auf große Kostbarkeiten Bach’scher Musik verzichten. Die Sopranistin Doerthe Maria Sandmann, die Altistin Ulrike Bartsch sowie der Bariton Matthias Vieweg haben mit stimmlicher Kultur und eindrucksvoller Gestaltung die Arien gesungen, obwohl Vieweg in dem Rezitativ „Am Abend, da es kühle war“ etwas unsicher wirkte.
Der Bariton sang auch die Christus-Worte. Heutig wirkte seine Interpretation – kein stiller Dulder vergangener Zeiten, sondern ein zorniger, sich nur schwer in sein Schicksal fügender junger Mann. Der Tenor Volker Arndt fasste den Evangelistenbericht zunächst sachlich, prüfte auch noch seine stimmlichen Möglichkeiten, engagierte sich aber im Verlauf des Geschehens immer stärker emotional, so dass er zur tragenden Figur des Abends wurde. Die Bassrezitative des Pilatus, Petrus oder Judas besetzte Commichau mit einem Choristen aus den Reihen der vocal concertisten. Die Partien erfordern ein Höchstmaß an Charakterisierungskunst. Dies konnte der Sänger aber leider nicht einbringen.
Kristian Commichaus Intentionen Chor und Orchester der Universität zusammenzubringen, haben sich auch an diesem Abend erfüllt. Die Sinfonietta Potsdam war gut auf ihre nicht leichten Aufgaben vorbereitet, vortrefflich unterstützt durch die Kammerakademie Potsdam-Violinisten Judith Wolf und Thomas Kretschmer. Die Instrumentalisten, zumeist Laien, waren mit ihrem warmen Musizieren an den vielen Momenten beeindruckender Plastizität engagiert beteiligt.
Sicherlich hätte Fanny Hensel auch nach dem Besuch im Nikolaisaal festgestellt, dass es viele Zuhörer gab, die staunten, dass es solch ein Werk gibt.
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