Kultur: Mein Zirkus spielt im Himmel Soiree im Alten Rathaus: Marc Chagall
Kultur als zweiter Herzschlag unseres Lebens im Alten Rathaus? Es ist still geworden um das ehemalige „Marchwitza“-Haus.
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Kultur als zweiter Herzschlag unseres Lebens im Alten Rathaus? Es ist still geworden um das ehemalige „Marchwitza“-Haus. Unten stellt Walter Libuda aus, oben der Südtiroler Guido Sotriffer, sonst tobt das Leben dort nun gerade nicht. Aber zum Glück gibt es ja den Förderverein zur Protektion musikalisch-literarischer Soireen in diesem Haus. Zusammen mit der Künstlerinitiative „die neue brücke“ veranstaltete er im kargen Charme des Musiksaals ein eindrucksvolles Programm, ganz dem Maler Marc Chagall gewidmet. Für ihn hing ja der Himmel schon immer voller Geigen, kaum ein Bild, wo dies bevorzugte Instrument nicht zu sehen wäre; manchmal war es auch ein Cello.
Wie dem auch sei, der Berliner Komponist Kurt Dietmar Richter stellte den alten Witebsker in Wort, Bild und Musik vor, wofür Marianne Boettcher gern ihre Violine bemühte. Ursula Trede-Boettcher begleitete sie am Klavier. Zur Aufführung kam Musik aus den Zeiten Chagalls, in Klezmer verpackte Klänge der Aschkenasim-Juden, etwas von Tschaikowski, Bartok, Lili Boulanger und Olga Magidenko.
Natürlich gab es jede Menge über den vielbegabten Künstler zu erzählen, der lange Zeit nicht wusste, ob er Sänger, Geiger, Tänzer oder etwa Maler werden sollte. Als er in der Witebsker Kunstschule aber alle seine Werke in vornehmes Violett tauchte, bekam er eine kostenlose Ausbildung. Er wurde Maler. Zuerst für die Oktober-Revolutionäre, bis denen das Violett allmählich zu bunt wurde, dann immer mehr in eigener Sache. Berlin, Paris, während des Krieges auch Übersee, Rückkehr 1948 nach Frankreich waren seine Lebensstationen. Innere Kraft fand er in seiner Gattin Bella, die allerdings schon 1944 stirbt. Ein Herz für sie hat er immer behalten. Sehr hübsch schilderte der Vortragende, mit welcher Innigkeit die beiden sich liebhatten, so sehr, dass sie, wider alle Schwerkraft, ständig abzuheben schienen. So findet man immer wieder schwebende Liebespaare auf seinen poetischen Bildern, stets von einem Hahn begleitet, oft auch von einer Kuh, nach Ansicht von Richter die Personifikation der Natur. Inhaltlich beschäftigte ihn die Bibel außerordentlich, etwa der Fall Adams und Evas, aber auch das Leben und Hochzeiten damals in Witebsk, und später. Chagall schuf dunkle Bilder als Reflex auf Hitlers (er galt als „entartet“), dunkle Kriege, malte später Kirchenfenster in Frankreich und Deutschland aus, illustrierte Bücher, arbeitete als Bühnenbildner. Sein Werk, ein Zeugnis seiner selbst, ist manchmal so poetisch, dass man nicht gleich darauf kommt, was da „gemeint“ war, zum Beispiel die siebenfingrige Hand bei einem Selbstporträts oder die Bilder vom Zirkus, der für Chagall stets im Himmel spielt.
Kurt Dietmar Richter bemühte sich, dem reich erschienenen Publikum sein Wissen über Chagalls „Farblehre“ oder dessen höchst eigenwillige „Zoologie“ zu vermitteln, wofür das satte Bild-Angebot viel Anlass gab. Schwerpunkt dieser Soiree aber war die Vorstellung einer Eigenkomposition für Violine solo im Stil der „neuen Musik“ mit vielen Aliquott-Tönen und detaché''s, „Chagalliade“ genannt. Sie bezog ihren Pfiff aus der Tonfolge C-H-A-G-A, indes die beiden „L“ nach Ansicht des Komponisten viel zu luftig seien, um sie zu notieren. Sie hätte vielleicht auch den Beifall des Geehrten bekommen, doch Marc Chagall starb 98-jährig an der Cote D''Azur. Vielleicht spielt er dort jetzt im Zirkus auf, zusammen mit seiner Bella ... Gerold Paul
Nächste Soiree am 18. 11., 17 Uhr, im Alten Rathaus. Klaus Büstrin liest „Ein Wintermärchen von Shakespeare /Fühmann
Gerold Paul
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