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Kultur: Menschlicher Zwiespalt

Tanztage: Interpretation eines antiken Mythos

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Tanztage: Interpretation eines antiken Mythos Die Geschichte auf der Bühne hätte gut ausgehen können – das Liebesspiel zwischen Actaeon, dem Jäger, und Artemis der Göttin der Jagd – wenn er ihr nicht zu nahe gekommen wäre. Wenn er sie nicht so gesehen hätte, wie sie keiner sehen darf, entblößt, in vollkommener Nacktheit. Actaeon berührt sie, wo sie sonst niemand berühren darf. Er verführt, streichelt, küsst sie, trägt sie fort. Doch das ist zuviel an Intimität für eine Göttin der Jagd, der Jäger muss das Liebesspiel mit dem Tod bezahlen. „It''s only a rehearsal“ heißt das Stück, das die norwegische Kompanie „Zero Visiblitiy Corp.“ als Deutschlandpremiere am Samstag und Sonntag bei den 14. Potsdamer Tanztagen präsentiert. Thema der Aufführung ist ein antiker Mythos des Ovid: Actaeon hat das morgendliche Bad der Jagdgöttin Artemis unterbrochen und sie nackt gesehen. Aus Rache verwandelt sie ihn in einen Hirsch, der von seinen Hunden getötet wird. Das Tänzerpaar Line Tormoen und Dimitri Jourde sieht weit mehr in dem Mythos als die Beziehung zwischen Jäger und Göttin. Es fragt nicht nur, ob der Jäger es verdient hat, gejagd zu werden und ob er, würde er noch leben, die Göttin verraten hätte. Das norwegische Duo macht die Beziehung des Paares zu einem allgemeingültigen Balanceakt zwischen Nähe und Distanz. Wie weit entblößen sich Liebende voreinander? Wie sensibel gehen Mann und Frau mit gezeigter Nacktheit um? Den Rahmen für den Tanz geben elektronische Sounds vor, in variierender Lautstärke, Rhythmus und Geschwindigkeit. Als Seismograph der inneren Stimmungen, als roter Faden, an dem sich das Tanzpaar entlang hangelt. Das Stück beginnt mit der sanft tanzenden Artemis. Actaeon, beobachtet sie, spaziert um sie herum, steigt in den Tanz ein, kraftvoll, kantig. Sie nähern sich einander an. Es kommt zum Hin und Her der Gefühle. Sie stößt ihn von sich, er zieht sie an sich heran, sie küsst ihn, er windet sich aus ihren Armen. Bis plötzlich aller Zwiespalt aufgelöst ist und sie sich ganz nah sind, als wären sie eins. Verbunden durch die aufeinanderliegenden Lippen, drehen sie sich im raumgreifenden Taumel. Hingebungsvoll, scheinbar endlos. Und doch wird ihn sein Schicksal ereilen. Der tote Hirsch liegt schon neben dem aufgezogenen Waldvorhang im Bühnenhintergrund. Die Tänzer überschreiben ihr Stück als „Rehearsal“, als einen Versuch. So hätte es gewesen sein können zwischen der Göttin und dem Jäger. So ließe sich der Mythos deuten. Dabei verschwimmt die antike Legende, dringt das intensive, kraftvolle und dynamische Liebespiel zwischen Mann und Frau in den Vordergrund. Würden die Darsteller sie nicht mit aller Macht wieder ins Bewusstsein holen. Wie bei einer Theaterprobe stehen die Tänzer plötzlich da. Pause, Stille, dann die englische und französische Erklärung der Ovid-Tragödie, die längst auf der Bühne Gestalt angenommen hat. Wer die Zusammenfassung aus dem Programmheft kennt, kann gut auf Sprecherin und szenische Nachhilfe verzichten. Das anspruchsvolle Tanzstück verwandelt sich in eine „Work in Progress“, eine unfertige, wenn auch humorvolle Probe. Ein gewollter (?) Bruch, der aus der gefangen nehmenden Stimmung des Abends herausreißt. Für einige Minuten. Denn selbst nach dem schauspielerischen Schnitt tanzen die Darsteller mit faszinierender Einfühlsamkeit. Sie hinterlassen Bilder einer leidenschaftlich interpretierten Geschichte, die berührt – und die Frage, ob der unnötige Bruch eine Panne oder gar szenisches Mittel war. Marion Hartig Heute gestalten Amos Hetz (Israel), Benno Voorham (Schweden) und Effi Rabsilber (Deutschland) in der fabrik ab 21 Uhr einen „Abend der kurzen Stücke“.

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