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Kultur: Mentale Konversion

Diskussion in der Landeszentrale: Zehn Jahre nach dem Abzug der Russen

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Diskussion in der Landeszentrale: Zehn Jahre nach dem Abzug der Russen Die Russen sind weg! Wenn die Landeszentrale für politische Bildung zu einer Diskussion über den Abzug der „Schutztruppe“ des ostdeutschen Sozialismus einlädt, ist damit die „atemberaubende menschliche und logistische Meisterleistung“ gemeint, so deren Leiterin Martina Weyrauch über den Abzug der 350000 Soldaten mit ihren Familien, ihrer 4 000 Panzer und 100000 Fahrzeuge samt Atomwaffen und Bergen von Munition in weniger als vier Jahren. „Die größte Truppenbewegung der Menschheit zu Friedenszeiten“, stellt sie beeindruckt fest. Materiell ist der Russe schon lange weg, obwohl der sogenannte Konversionsbeauftrage von damals, Helmut Domke, nicht müde wird zu betonen, wie viele Flächen noch immer mit Altlasten verseucht sind. Der Russe als kulturell hoch aufgeladenes Emblem verschwindet aber auch innerhalb von zehn Jahren nicht so schnell aus den Köpfen. Er ist dort zu einem Freund geworden. Für manche, wie der Abend zeigte, auch zu einem verklärten Freund, der, wie man selbst, aus der Heimat vertrieben wurde und mit dem man dasselbe Schicksal teilt. Vielleicht sind deshalb zu diesem etwas drögen Gespräch so viele Interessierte erschienen, dass die Stühle im ganzen Haus ausgingen und man die Veranstaltung im Foyer über Lautsprecher verfolgen musste. Vielleicht deshalb der Applaus für einen Zuhörer, der vom „Abzug zweiter Klasse“ sprach, und von der Kohl-Regierung, „die nicht den richtigen Ton gefunden hat.“ Ausschnitte aus einem Dokfilm über den Abzug der Westgruppe aus Wünsdorf 1994, wo das russische Oberkommando stationiert war, zeigen alles, was wir am Russenbild lieben. Wohlgenährte Soldaten in froschgrünen Uniformen, die übersät sind mit lustigen bunten Orden. Sogar die Frauen haben prunkvolle Abzeichen auf der Brust. Dann wird auf einer Bühne russengemäß getanzt, Soldatenburschen fassen sich unter, eine riesige Balalaika schlägt den Takt. Interviewte Russen sagen nur das Beste über das Land, das sie verlassen müssen. Politisch gesehen ist das alles ganz im Sinne der Landeszentrale, denn sie ist zuständig für Demokratiemarketing, mit besonderer Berücksichtigung der Befindlichkeiten Brandenburgs. Oberst Alexej Andrejew, damals zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit der Russen, und derjenige „der in Wünsdorf das Licht ausgemacht hat“, lässt sich kein böses Wort über die Umstände des Abzuges entlocken. Weyrauchs bohrende Frage nach seinem „ganz persönlichen Schicksal“ bleibt unbeantwortet. Stattdessen beschreibt er die letzte Mission der Westgruppe als „ehrlich, würdig und gut erfüllt“. Die Beziehungen von Brandenburg zum heutigen Rußland seien hervorragend. Der Fotograf Frank Gaudlitz hat den Abzug der Russen früh schon mit der Kamera festgehalten, das Buch „Die Russen gehen“ ist so entstanden, seine Bilder sind momentan auch im Potsdam-Museum zu sehen. Die wieder mal auf das Emotionale zielende Frage der Moderatorin, wie es zu dem „wunderbaren Buch“ gekommen sei, beantwortet er zögerlich. Er sagt, die Russen wären Bestandteil des täglichen Lebens gewesen, das Verhältnis wäre sehr komplex. Das klingt nach Verlust. Sein Autor Thomas Kumlehn, der die Texte zum Buch verfasst hat, zieht überraschend auch eine Parallele zwischen seinem Leben in der DDR und den hier stationierten Soldaten, er sagt: „Ich weine der DDR keine Träne nach, aber sie ist ein stabiler Horizont, um in dieser Gesellschaft zu überleben, in der ich genauso wenig angekommen bin wie die russischen Soldaten in den Zeltstädten.“ Tausende der Heimkehrer, wohl einfache Soldaten, mussten zunächst auf eine feste Unterkunft warten. Technisch und politisch gesehen wurde der militärische Rückzug vorbildlich gelöst. So gut sogar, dass sich, wie der Konversionsbeauftragte erklärt, ganze Konversionsnetzwerke gebildet haben und Firmen bereit stehen, ihre Erfahrung an die Neu-EU-Staaten weiter zu geben. Es klingt schon ein wenig paradox und traurig, wenn in Brandenburg damit ein profitabler und sogar exportfähiger Wirtschaftszweig entstanden sein sollte, dessen Kompetenz in der Rückerlangung eines Null-Niveaus liegt, ab dem eine gesunde Wirtschaft eigentlich erst möglich wird. Eine ganz andere, bislang unbeantwortete Frage ist, ob es nicht auch langsam eines Beauftragten für mentale Konversion bedürfte, der das allzu weich gezeichnete Russenbild aus den Köpfen in die komplexere historische Wirklichkeit überführt. Matthias Hassenpflug

Matthias Hassenpflug

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