Kultur: Millionen blicken dich an
Mutige Inszenierung: Premiere von „Wir im Finale“ in der Blechbüchse des Hans Otto Theaters
Stand:
Klar geht es in Marc Beckers Stück „Wir im Finale“ um Fußball, um nichts anderes. Vor der Premiere schossen „wir“ am Freitag im Eröffnungsspiel Costa Rica ab. In der alten Blechbüchse, die für die Kooperation von Filmhochschule und Hans Otto Theater zum letzten Mal genutzt wird, war das Spiel zunächst auf der wohl größten Leinwand der Stadt zu sehen. Was immer dieses Wir ausmacht, es wurde von der deutschen Elf in einen für einen Theaterbesuch wohl einzigartig national-aufgeputschten Zustand versetzt.
Das Theater hätte allen Grund, mit Neid auf das Spektakel zu schauen. König Fußball kann fast alles besser. Die Menschen in den Stadien scheinen um ein Vielfaches aufrichtiger mit zu fiebern, Wut zu zeigen oder ihre Liebe auszudrücken als bei einem Theaterbesuch. Die Gegenwehr: aus dem Theater wurde mit dem fantastischen Bühnenbild (Marek Hertel) ein Stadion gezaubert: Mit Heim- und Gästekabine, Oberrang und Stollenkontrolle durch sachverständige Schiedsrichter vor der ersten Platzberührung.
Und nein, Marc Beckers Stück in der Regie von Anne-Sylvie König ist zu klug und vielgestaltig, um ein bloßes Socker-Surrogat anzubieten. Der Fußball, diese neunzig jeweils wichtigsten Minuten im Leben eines Mannes oder wahlweise auch einer Nation, dient als Folie und Format, um Größeres zu zeigen. Und das ist ja die eigentliche Sache von Theater: die Ich-Sicht zu fördern.
Nein, hier kann es sich gar nicht um richtigen Fußball handeln. Wo heißen die Spieler schon Fleischmann, Bartels, Schmelzer, oder gar Kanulli? Eine Fantasie-Elf aus Allerweltsnamen wird hier angefeuert. Wo bitte spielt die Farbe Rosa im Fußball eine Rolle? Die HFF-Schauspieler Polina Bachmann, Jan Hasenfuß, Lena Stamm und Sebastian Stielke geben nur vor, rosa bewamst ein Spiel zu kommentieren. Tatsächlich feuern sie keine Mannschaft an, sondern das Wir, das Publikum, das da vor ihnen auf dem Spielfeld Platz genommen hat. Das Wir denkt: „Wie peinlich!“
Dieser spiegelnde Twist ist die größte Stärke von einigen, die das Stück sehenswert machen. Die Zuschauerränge, auf denen sonst dieses Wir Bier trinkend sitzt, werden zur Bühne, und die Menge, das stumme aber mächtige Kollektive, findet sich – das Wichtigste ist auf“m Platz – plötzlich im Kessel des Spielfeldes wieder. Der stille Betrachter wird zum Adressaten und Millionen blicken ihn an. Stadionatmosphäre für das Ich. Tu endlich was!
Visuell wird dieser Eindruck noch durch den Bühnenbau und drei Projektionsflächen – oben, vorne, hinten – unterstützt. Das Publikum unten auf dem Rasen blickt hinauf in die elf Stuhlreihen zwischen denen die Schauspieler agieren. Bewegung wird durch die Stühle strukturiert und getaktet. Durchlaufen, draufsitzen, -hocken und -liegen. Auf und Nieder. Die immer gleichen Segmente und Reihungen, in denen Freiheit unmöglich ist.
Im Hintergrund Bilder vom leeren, gigantischen Olympiastadion. Spielszenen werden auf der Leinwand – visuell hoch effektiv und wunderbar ironisch – mit reifen, roten Weintrauben nachgestellt. In Reihe, kugelnd, zermatscht, mit dem Finger geschnipst. Das Stück folgt einem subtilen Bewegungsablauf. Der rettende Elfmeter wird mit einem in Zeitlupe ausgeführten Freudentanz gefeiert.
Auch die Sprache untersteht dieser mehrschichtigen, präzisen Choreographie. In Videoclip-Geschwindigkeit sich ändernde Musik (vom DJ Moritz Metz) gibt den Rhythmus vor. Die Figuren reden nicht miteinander, ihre Kommentare fallen vielmehr melodiös ineinander. Fußballphrasen, wie „der Ball kann nicht lügen“ oder sogar der missverständliche Ruf „wir brauchen einen Führer“ in dichter, kunstvoller Taktung extremster Gefühlswallungen. Für die jungen Schauspieler die Möglichkeit, ihr gesamtes Potential abzurufen. Echt gut aufgestellt! Doch alles nur, um aus der so geschaffenen Tiefe des banalen Raumes drei Stimmen Gehör zu schenken, einfachen Leuten mit kleinen Sorgen. Sandra (Jenny Weichert) ist schüchtern-verträumt verliebt, Rolf (Emanuele Peters) kämpft großartig mit seinem inneren Widersacher und Altenhelfer Peter (Max Engelke) wird langsam wahnsinnig. Im frenetischen, unkommunikativen Chor der Massen drohen diese stillen Existenzen unter zu gehen. Das kleine Ich droht, im trunkenen Wir zu versinken.
„Wir im Finale“ ist eine mutige Inszenierung. Es gelingt hier multimedial und beinahe antidialogisch hinter dem Vergötterten etwas Grundlegendes sichtbar zu machen, ohne sich an den Fußball anzubiedern. Punktsieg für das Theater und die bravourösen Schauspieler.
Aufführungen: 20., 22., 29., 30. Juni sowie 5. und 9. Juli, wechselnde Anfangszeiten. Theaterhaus am Alten Markt.
Matthias Hassenpflug
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