Kultur: Mit Blue Notes und Orgelpunkten
Wohl kein anderer Kontinent besitzt solch eine musikalische Vielfalt wie das musikbegeisterte Europa. Zugleich dominieren die in Europa geschaffenen musikalischen Großformen die internationale E-Musik-Landschaft bis heute.
Stand:
Wohl kein anderer Kontinent besitzt solch eine musikalische Vielfalt wie das musikbegeisterte Europa. Zugleich dominieren die in Europa geschaffenen musikalischen Großformen die internationale E-Musik-Landschaft bis heute. Ob Konzert oder Symphonie, Oper oder Oratorium – alle könnten das Etikett „Made in Europe“ tragen. Mit dem auf zwei Spielzeiten angelegten Projekt „Europa der Nationen“ bietet das Neue Kammerorchester Potsdam viele Gelegenheiten, in die europäischen Klangwelten zu tauchen. Schon das erste Konzert zum Thema Frankreich in der etwas schwach besuchten Erlöserkirche am Donnerstagabend bot reizvolle und interessante Einblicke. Gerade solch ausgeprägtes Traditionsbewusstsein und Stilgefühl wie in der Grande Nation eröffnet Möglichkeiten zur Eroberung neuer Bereiche. Frankreich hat nicht nur die fantastischen Klangwelten des Impressionismus kreiert, sondern auch den Jazz in die Symphonik integriert.
Unter der Leitung von Ud Joffe gab es innovative, archaische und sogar außereuropäische Klänge zu hören. Claude Debussys „Prélude à l´après-midi d´un faune“ schockierte zuerst das an Melodie, Rhythmus und Pathos gewöhnte Publikum. Beim hochkonzentrierten Spiel des Neuen Kammerorchesters ließ sich die anhaltende Beliebtheit des zum Klassiker gewordenen Werks perfekt nachvollziehen. Unter der souveränen Leitung von Ud Joffe kommen zarteste Schattierungen, kleinste Reflexe in einem transparenten, sublimen Klanggewebe ohne grelle Schwelgereien zum Vorschein. Den Zeiten des Sonnenkönigs gedenkt Maurice Ravels „Le tombeau de Couperin“ im Stil einer barocken Suite. Hier tupfen Flöte und Holzbläser zum zarten Arpeggiato von Harfe und Pizzicato der Streicher durchsichtige, erlesene Tonaquarelle, formvollendet und unpathetisch zwischen Impressionismus und Neoklassizismus changierend.
Als besonderer Höhepunkt erweist sich „La création du monde“ von Darius Milhaud, eine afrikanisch inspirierte Urwald- und Urwelt-Fantasie mit viele Blue Notes und Jazz-Rhythmen. Als einer der ersten verwendete Darius Milhaud ein Sopransaxophon im Orchester. Während die Streicher einzeln besetzt sind, treten die Holzbläser doppelt auf. Markante Akzente setzten drei Schlagzeuger. Dennoch trumpft das Werk nicht mit Lautstärke und brutaler Kraft auf, sondern malt impressionistisch- idyllische, geheimnisvoll raunende Klangbilder. So dezent und differenziert gespielt wie hier wird es zu einem musikalischen Hochgenuss.
Wieder neue Klänge vermittelt das Orgelkonzert in g-Moll von Francis Poulenc, der ebenso wie Milhaud zunächst zur neutönerischen „Groupe des Six“ gehörte. Das nach seiner Wendung zum Katholizismus komponierte Werk erweist sich als rhapsodische Phantasie aus berückenden und berauschenden Klängen von Orgel, Streicher und Pauke. Die nun auf der Orgelempore versammelten Streicher formen, auch solistisch, edle Tongebilde voll herber Erdenschwere. Dazu braust, posaunt und frohlockt die Orgel, die vom Berliner Domkantor Tobias Brommann ausdrucksstark gespielt wird. Nach diesem außerordentlichen Konzert ist man gespannt, was das Neue Kammerorchester aus dem europäischen Musikkosmos noch bieten wird.Babette Kaiserkern
Babette Kaiserkern
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: