Kultur: Mit dem Mauerfall ist ein neues Land entstanden Zeithistoriker Hertle zur Wiedervereinigung
14 Jahre nachdem die Deutschen freudetaumelnd die Wiedervereinigung feierten, scheint sich allgemeine Ernüchterung eingestellt zu haben „Notorische Unzufriedenheit“ und „Misstrauen“, „Arroganz“ und „Geldgier“ werfen sich die Deutschen heute Umfragen zu folge gegenseitig vor. Zudem glauben 14 Prozent der Ostdeutschen und gar 24 Prozent der Westdeutschen, dass es ihnen heute schlechter geht als vor 1989.
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14 Jahre nachdem die Deutschen freudetaumelnd die Wiedervereinigung feierten, scheint sich allgemeine Ernüchterung eingestellt zu haben „Notorische Unzufriedenheit“ und „Misstrauen“, „Arroganz“ und „Geldgier“ werfen sich die Deutschen heute Umfragen zu folge gegenseitig vor. Zudem glauben 14 Prozent der Ostdeutschen und gar 24 Prozent der Westdeutschen, dass es ihnen heute schlechter geht als vor 1989. Für Hans-Hermann Hertle, Historiker am Zentrum für Zeithistorische Forschung, steht das Lamentieren über die „Kosten der Einheit“ allerdings in krassem Gegensatz zur „Sternstunde einer friedlichen Revolution“ und der deutschen Einheit als einem „Geschenk der Geschichte“. Das beiderseitig wachsende Gefühl, Verlierer der Geschichte zu sein, resultiert für ihn vor allem aus dem mangelnden Verständnis für die wirtschaftliche Ausgangssituation im vereinigten Deutschland. Zur Sonntagsvorlesung im Alten Rathaus stellte er deshalb gestern die Verbindungen von historischen Gegebenheiten zur heutigen Unzufriedenheit dar. Zum einen hält rund die Hälfte der Westdeutschen die bisherigen finanziellen Hilfen für die neuen Bundesländer für zu hoch. Dabei werde, so Hertle, oft vergessen, dass der „Milliardenstrom“ teilweise zurück in den Westen fließt, da der Osten zum Absatzmarkt wurde. So konnte die Ende der achtziger Jahre drohende Rezession in der Bundesrepublik im Keim erstickt werden. Außerdem reduzierten sich die enormen Summen, die allgemein hin genannt werden, bei genauer Betrachtung erheblich. Zum andern hält eine wachsende Zahl von Ostdeutschen – inzwischen sind es rund 22 Prozent – die DDR für die erstrebenswertere Gesellschaftsform. Hier sieht Hertle vor allem eine unzureichende Berücksichtigung des Zustands der DDR vor ihrem Ende. Deshalb legte er den Schwerpunkt seines Vortrags auf den wirtschaftlichen Niedergang seit dem Machtantritt Erich Honeckers 1971. Zu diesem Zeitpunkt war der Arbeiter- und Bauernstaat zwar arm, aber nicht überschuldet. Honecker versuchte jedoch, die Bevölkerung mit Konsumgütern und niedrigen Preisen zu befrieden. „Lohn- und Rentenerhöhungen sowie das gigantische Wohnungsbauprogramm beruhten von Anfang an auf Pump“, so Hertle. Bereits 1977 befand sich die DDR erstmals in akuten Zahlungsschwierigkeiten. Den warnenden Stimmen zum Trotz setzte Honecker seinen ruinösen Kurs fort und gaukelte der Bevölkerung eine heile Welt mit Vollbeschäftigung und niedrigen Preisen vor. Als der Westen 1981 einen Kreditstopp verhängte, stand die DDR erneut vor der Zahlungsunfähigkeit. Nur durch den oft unrentablen Export und erneute Milliardenkredite aus der Bundesrepublik konnte die Krise vorerst überwunden werden. Folge war, dass die nötigen Investitionen in Industrie und Infrastruktur ausblieben und dass die Sozialsysteme ausgehöhlt wurde, was vielen Bürgern zwar verborgen blieb, jedoch bis heute zu spüren ist. Der Abteilungsleiter beim Zentralkomitee der SED, Günter Ehrensperger, fasste die Situation am 9. November 1989 folgendermaßen zusammen: „Wenn man die Sache charakterisieren will, warum wir heute in dieser Situation sind, dann muss man sagen, dass wir mindestens seit 1973 Jahr für Jahr über unsere Verhältnisse gelebt haben. Es wurden Schulden mit neuen Schulden bezahlt. Und wenn wir aus dieser Situation herauskommen wollen, müssen wir 15 Jahre hart arbeiten.“ Auch wenn der Wortlaut an die Begründungen der aktuellen Bundesregierung für ihre Reformen erinnern mag, war die größte Sorge der DDR-Führung, dass diese Analyse in die Öffentlichkeit gelangen könnte. Darin sieht Hertle auch den großen Unterschied zu heute. Bei allen Fehlern der Regierungen nach der Vereinigung, sei es immer möglich gewesen, diese öffentlich zu diskutieren. Außerdem, so mahnt der Historiker Hertle beide Teile Deutschlands, sei es ein Trugschluss zu glauben, die alte Bundesrepublik sei 1990 lediglich vergrößert worden: „Es ist ein neues Land entstanden“. Moritz Reininghaus
Moritz Reininghaus
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