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Kultur: Mit dem Taschentuch im Takt

30 Jahre Weihnachtsliedersingen in St. Nikolai / Wolfram Iwer erinnert sich

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Die Engel haben seit dem ersten Advent wieder ihren angestammten Platz eingenommen. Sie waren auch in diesem Jahr von dem Ruf der Menschen beeindruckt: „Kommt ohne Instrumenten nit, bringt Lauten, Harfen, Geigen mit“. Ein Engelorchester aus einer erzgebirgischen Holzkunstwerkstatt hat in der Wohnung von Adele Stolte-Iwer und Wolfram Iwer Aufstellung genommen. Nur der mit dem Saxofon fühlt sich noch ein wenig fremd. Vielleicht bekommt er Verstärkung von einem Kollegen, einer, der mit E-Gitarre oder Keyboard einstimmt.

Aber die Iwers machen lieber selbst Musik, nicht nur zur Weihnachtszeit. Dabei sind ihnen die Singstimmen und die klassischen Instrumente nach wie vor willkommen. Unzählige Male sang Adele Stolte als eine der bedeutendsten deutschen Sopranistinnen im Oratorien- und Konzertfach die Engelsbotschaft von der Geburt Christi, die Bach in seinem Weihnachtsoratorium so kongenial vertonte. Und Wolfram Iwer hat jahrzehntelang als Kirchenmusiker das unendlich große Repertoire von adventlicher und weihnachtlicher Chor- und Orgelmusik interpretiert, so als Kantor der Inselkirche von Hermannswerder und der St. Nikolaikirche. 1981 ging er an das größte Gotteshaus in Potsdams Mitte. Im Mai jenes Jahres wurde es wieder eingeweiht, nachdem seine Kriegszerstörung dank des Wiederaufbaus, der zwar jahrzehntelang dauerte, überwunden war.

„Als ich im Sommer 1981 über die kirchenmusikalischen Aktivitäten in der Adventszeit nachdachte, kam ich zu der Überzeugung, dass ich mit der aktuellen Chorbesetzung kein Konzert auf die Beine stellen kann“, erzählt Wolfram Iwer. Und so hatte er die Idee, die Tradition des Weihnachtsliedersingens am 4. Advent an St. Nikolai weiterzuführen. Seine Vorgänger Wilhelm Kempff sen., der Vater des berühmten Pianisten Wilhelm Kempff, Fritz Werner und Hanna-Maria Schuster haben diese „Singen“ in der Nikolaikirchengemeinde zu einer festen Größe gemacht. Nun lud er Kirchenchöre der beiden großen Konfessionen und der Freikirchen Potsdams zum Mitgestalten ein. Und sie kamen.

Längst ist das Weihnachtsliedersingen zu einer kirchenmusikalischen Attraktion in der Landeshauptstadt geworden. In diesem Jahr feierte es seinen 30. Geburtstag. Ein besonders bewegender Moment war für Wolfram Iwer die erste Veranstaltung nach dem Fall der Mauer 1989. „Mit großer Dankbarkeit begrüßten wir Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Er wurde mit stürmischem Applaus willkommen geheißen, an seiner Seite DDR-Ministerpräsident Hans Modrow. „Ich habe meine Chorsänger gebeten, auch ihn mit Beifall zu bedenken, damit im Gotteshaus keine Peinlichkeit auftreten könne“, erinnert sich der Kirchenmusiker. Iwers Nachfolger, Björn O.Wiede, der seit 1994 Kantor von St. Nikolai ist, führt das Weihnachtsliedersingen lebhaft weiter.

Am vergangenen Sonntag, dem 4. Advent, waren nun wieder Potsdamer Kirchenchöre in diesem Gotteshaus zu Gast. Mit schlichten und kunstvollen Chorsätzen haben die Sängerinnen und Sänger die Zuhörer inmitten all des gegenwärtigen Stresses auf das Wesentliche der Adventszeit zurückgeführt. Die Nachfrage nach Eintrittskarten ist immer noch so groß, dass wiederum zwei Veranstaltungen angesetzt werden mussten. Seit 1982.

Wesentliche musikalische Impulse empfing Wolfram Iwer im Liturgischen Knabenchor von St. Nikolai, dessen Mitglied er als Zehnjäriger 1938 wurde. Iwers erste „Amtshandlung“ als Chorknabe waren in jenem Jahr die Beisetzungsfeierlichkeiten für den Nikolaikantor Wilhelm Kempff. Doch Sonntag für Sonntag und natürlich an allen kirchlichen Hochfesten haben rund 50 Jungen und Männer die Gottesdienste musikalisch ausgestaltet. Auch Oratorien wurden aufgeführt. „Als Zehnjähriger fand ich es natürlich toll, dass wir Sänger einmal im Monat ein kleines Salär erhielten“, erinnert sich Wolfram Iwer. „Mich hat es als Kind jedoch auch fasziniert, dass Fritz Werner aus Babelsberg, der Nachfolger von Kempff wurde, auf der Orgelempore kurz vor dem Gottesdienst, sogar noch während des Präludierens, sich per Haustelefon mit dem Pfarrer in der Sakristei über den Gottesdienstablauf verständigte.“

Fritz Werner, der auch als Komponist hervortrat, er vertonte beispielsweise Gedichte von Jochen Klepper, veranstaltete ebenfalls die Weihnachtsliedersingen mit dem Liturgischen Knabenchor. „Im Altarraum, auf der Orgelempore sowie in der Innenkuppel der Kirche wurden wir Sänger verteilt. Werner stand unten im Kirchenschiff und gab mit einem weißen Taschentuch bereits eineinhalb Takte vor dem richtigen Einsatz den Auftakt, da diejenigen, die in der Innenkuppel standen, eigentlich nur ,Klangbrei‘ vernahmen. Das Taschentuch war eine sichere Requisite, damit wir ungehindert durch den Chorsatz kamen.“ Das Singen in der Kuppel hat bei Wolfram Iwer bleibende Eindrücke hinterlassen.

So hat er diesen wunderbaren klanglichen Effekt auch in seine Weihnachtsliedersingen übernommen. Doch nun nahmen seine Frau, Adele Stolte, Familie und Freunde gut zwölf Jahre lang ihren angestammten Platz in der Kuppel ein, um die Weihnachtsbotschaft musikalisch zu verkünden. Denn „die Stimmen müssen lieblich gehn“.

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