
© Stefan Gloede
Kultur: Mit Naivität und Hintersinn
Andrea Moses hat aus Alessandro Scarlattis „Cain und Abel“ eine großartige Winteroper inszeniert
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Die Bibel bietet Stoff für jedermann. Das pralle Leben begegnet dem Leser bei der Lektüre des Alten und Neuen Testaments: Liebe und Intrige, Krieg und Frieden, Mord und Versöhnung, Zeichen und Wunder, Lug und Trug, Anfang und Ende. Auch Künstler haben sich biblischen Themen immer wieder angenommen. Besonders die Musik führt mit ihrem emotionalen Reichtum die Zuhörer in ihren Bann, ob mit Kantate, Oper oder Oratorium.
Auch die Veranstalter der vor elf Jahren ins Leben gerufenen Potsdamer Winteroper – die Kammerakademie Potsdam und das Hans Otto Theater – haben die Bibel entdeckt. Sie nehmen Bezug auf ihren Interims-Spielort seit 2013, auf die Friedenskirche Sanssouci. Nach Händels „Jephta“, Mozarts „Betulia liberata“ ist in diesem Jahr „Cain und Abel“ mit dem Originaltitel „Cain oder Der erste Mord“ von Alessandro Scarlatti in fünf Aufführungen zu erleben. Freitag war Premiere.
Alessandro Scarlattis Werk ist zwar ein Oratorium, das er 1707 auf ein Libretto des venezianischen Patriziers Antonio Ottobone für Venedig komponierte, doch die dramatische Handlung vom ersten Brudermord im Alten Testament impliziert eine theatrale Umsetzung, auch die musikalische Struktur. Vielleicht hat der fleißige Opernkomponist Scarlatti an eine Opernaufführung gedacht, aber die Zeiten waren alles andere als günstig für Theaterleute. Der Papst verbot 1698 alle öffentlichen Schauspiel- und Opernaufführungen. Die Moral der Gläubigen sollte hoch gehalten werden. Kardinäle umschifften das Verbot und veranstalteten in ihren eigenen Häusern Theateraufführungen.
Die an deutschen Theatern erfolgreich inszenierende Regisseurin Andrea Moses und Bühnenbildner Matthias Müller gingen sehr respektvoll mit dem sakralen Raum um. Sie spielen eindrucksvoll mit dem, was vorhanden ist, und erweiterten die vorhandene marmorne Spielfläche mit Imitationen. Auch der Altar, der Taufstein, der verkleidet wurde, oder die Orgelempore sind in die Inszenierung einbezogen. Sogar das kostbare venezianische Goldmosaik mit dem auf dem Thron sitzenden Christus darf in mancherlei Farben leuchten. Es scheint, dass Andrea Moses die Bibel gut kennt. Denn sie verbleibt nicht im Alten Testament, sondern bezieht, wie es im Oratorium immer wieder anklingt, das Neue Testament klug mit ein. Mit Ernsthaftigkeit, Naivität, Hintersinn und vergnüglichem Augenzwinkern, auch bei den Kostümen von Tabea Braun, wird „Cain und Abel“ in die Kirche gebracht. Die Inszenierung präsentiert sich nicht nur als eine spannende Krimi-Story, sondern als eine Geschichte vom Wirken Gottes an Menschen, vom gläubigen Vertrauen und die von Irrtum und Hass Getriebenen, die das Leben eines Anderen durch Gewalt auszulöschen vermögen. Aber auch von dem manchmal unerklärlichen Dilemma, wie die Sünde in die Welt kam und vom Warten auf den Erlöser. Andrea Moses hätte gut und gern das aktuelle Weltgeschehen in ihre Inszenierung einbinden können. Sie hatte aber die leider noch präsente Zeitlosigkeit der alttestamentarischen Geschichte im Blick.
Die aus dem Paradies vertriebenen Adam und Eva beklagen vor ihren Söhnen Kain und Abel den Sündenfall. Abel versucht, seine Eltern zu trösten und verspricht, Gott das beste Lamm zur Versöhnung zu opfern. Es kommt zu einem Geschwister-Streit. Kain fordert als Erstgeborener das Recht ein, den Opferritus mit Früchten seines Ackers vollziehen zu dürfen. Während Abels Opfer von Gott nicht angenommen wird, geht Kain leer aus. Angestachelt von Luzifer keimen in Kain Mordgedanken gegenüber Abel. Die Brüder gehen aufs Feld, wo aus einem Blumenkranz, den Abel für sich bindet, ein Dornenkranz wird. Ein deutlicher Hinweis auf den leidenden Christus. Es kommt zu einer Auseinandersetzung mit Gott, der ihn des Brudermordes anklagt und ihm eine Strafe auferlegt: Mit dem Kainsmal gezeichnet, soll er durch die Welt irren und seine Tat bereuen. Kain nimmt die Strafe Gottes an. Als bußfertiger Pilger zieht er in die Welt. Zum versöhnlichen Schluss erklingt Abels Stimme, der seine Eltern zu trösten versucht. Er berichtet von himmlischen Freuden, die er nun genießen kann. Gott verspricht Erlösung.
Die Kammerakademie Potsdam unter der Leitung des Violinisten Bernhard Forck spielt souverän Scarlattis Musik, das mit einer Mischung aus souverän beherrschter althergebrachter Technik, untrüglichem Gespür für den sicheren Affekt und jenem Schuss individueller Eingebung aufwartet, der jeden großen vom bloß soliden Komponisten unterscheidet. Forck legt großen Wert auf eine detailreiche artikulatorische Arbeit. Auch Bewegungen unterhalb der Oberfläche werden ausgeleuchtet, nichts wird mit breitem Pinsel gezeichnet, schmale Linien dominieren das Bild. Obwohl auf modernen Instrumenten gespielt, atmet die Interpretation den Geist historischer Musizierpraxis.
Die sechs Solisten warten mit wunderbaren darstellerischen und gesanglichen Leistungen auf. Sie verstehen die Musik nicht als Vorlage zur Selbstdarstellung. Ausdruckspotenzial und Gestaltungsmöglichkeiten werden ganz im Dienste der Notenvorlage gestellt. Talia Or singt eine warmherzige Eva, Bettina Ranch furios den ruhelosen Kain, Marie Smolka überzeugte mühelos mit silbrig schimmerndem Sopran den Abel, Fernando Gulmaraes war ein solide singender Adam, Benno Schachtner setzte souverän seinen schön klingenden Countertenor für die Partie des Gott ein, sein Gegenspieler Luzifer wird von Neal Deavies, Bass, mit vibrierend-stimmlicher Durchschlagskraft gesungen.
Das Publikum spendete am Schluss der ereignisreichen Opernaufführung Orchester, Solisten und dem Regieteam langanhaltenden Beifall.
Nächste Aufführungen: 2., 27., 28. November, 19 Uhr, in der Friedenskirche Sanssouci.
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