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Sehnsuchtsort. Herbstglanz in der durchsonnten Luft an der Neustädter Havelbucht.

© Andreas Klaer

Kultur: Mit neidvollen Blicken

Die Schriftstellerin Antje Rávic Strubel über ihre Sehnsucht nach dem Potsdamer Herbst

Stand:

Wäre ich in Potsdam, würde ich über den langen, sonnigen Herbst und die Färbung der Blätter vor den barocken Fassaden der Innenstadt schreiben, darüber, dass Brandenburg in diesem Herbst eine ungeheure Ausstrahlung hat und Menschen aus dem übrigen, verregneten Deutschland magisch anzieht. Wäre ich in diesem außergewöhnlichen Herbst, würde ich in eine Decke gehüllt vor einem Café sitzen oder einen Spaziergang zur Orangerie machen, die jetzt wieder mit Palmen und Zitronenbäumen gefüllt ist, ich würde morgens erwachen in eine blassblaue Klarheit hinein, wie sie der Himmel nur hier und nur im Oktober hat. Ich würde mir ein letztes Mal ein Kanu ausleihen und über den Tiefen See und den Jungfernsee paddeln, um zu sehen, wie sich hinter den lichter werdenden Bäumen der Parks das Belvedere in der Ferne immer deutlicher abhebt. Ich würde die Morgennebel auf dem Wasser sehen und wie sie sich später auflösen in der durchsonnten Luft, in der die Kälte des Winters schon spürbar ist, aber noch einmal, für einen weiteren Tag, nur diesmal noch überstrahlt wird vom restsommerlichen Abglanz der Wärme, die mit nachlassender Stärke im Boden gespeichert ist. Ich würde alles in einem milden Leuchten weniger werden sehen.

Aber ich habe von diesem Herbst nur gehört. Ich habe im Internet auf die Wetterseiten gesehen. Ich habe E-Mails bekommen, in denen stand: „Wir setzen uns in die Sonne.“ Und wäre ich in Potsdam, hätte ich für all das vielleicht keinen Blick. Denn es ist immer die Sehnsucht, die zum Schreiben treibt. Wäre ich in Potsdam, würde ich vielleicht über Helsinki schreiben, über meinen ersten Besuch im Mai in der nordischen Ostseestadt, die dieses Jahr Designmetropole ist. Ich würde über den Wind schreiben, der vom Meer her durch die Straßen wehte und so eisig war, dass ich den Kopf nicht in den Nacken legen wollte, um die Jugendstilhäuser zu betrachten. Der finnische Jugendstil ist robust. Die Häuser haben Granitfassaden und wehrhafte Türme. Selbst da, wo sie verspielt ist, erinnert diese Architektur an mittelalterliche Burgen. Ich würde schreiben, dass der Frühling noch nicht in Sicht war im Mai, und dass der Herbst jetzt, bei meinem zweiten, längeren Aufenthalt, schneller und früher kam und die Linden im September noch Blüten hatten, während der Ahorn daneben schon rot geflammt aussah.

Mittlerweile ist hier alles gelb. Es sind gelbe Wälder, die das dominierende Grau der Tage aufreißen. Gelbe Wälder, die inmitten von Wasser stehen. Die Wege sind nass, die Moose auf den Felsen, die Flechten sind schattig von Feuchtigkeit, das Weiß der Birkenstämme glänzt dunkel. Die Wälder wachsen in die Stadt hinein. Sie säumen die Schnellstraßen und die Ufer, und an den Stadträndern werden gläserne Bürogebäude nur deshalb wie verrückt gebaut, um sich dem Zugriff der Natur zu widersetzen. Das Wasser ist allgegenwärtig. Dort, wo keine Schotterwege aufgeschüttet wurden, ist der Untergrund weich. Rutschig und matschig, schlammig, pampig, durchtränkt, moddrig, morastig, vollgesogen, verschlickt und versumpft sind Worte, die mir, seit ich hier bin, ständig durch den Kopf gehen. Das Wasser rinnt mit den Flussläufen in die Stadt, es steigt aus dem Boden. Sogar vor der Oper wachsen Blaubeeren und Sumpfporst. Das Grundwasser scheint knapp unterhalb des Asphalts zu stehen. Der Regen bringt es mit und das Meer. Die Ostsee klatscht gegen die Hafenmauern im Stadtzentrum, sprüht gegen die Scheiben der grünen Straßenbahnen, lässt die Jollen schaukeln, auf deren Hecks eingelegte Heringe und Räucherlachs verkauft werden. Die Windböen, die vom offenen Meer her kommen, werden vom Schärengarten, Tausenden kleinen Felsinseln vor Helsinki, nur wenig gebändigt. Sie peitschen mit voller Kraft in die Prachtstraße, die Esplanade, hinein und treiben die Leute in die teuersten Cafés, ins Strindberg oder ins Kappeli, wo der Cappuccino fünf Euro kostet und das winzige Tortenstück acht. Manche gehen in Gummistiefeln durch die Straßen. Vor ihren Büros oder in der Garderobe des Theaters ziehen sie andere Schuhe an, die sie in der Handtasche mit sich tragen. „Jetzt ist Regenzeit“, sagen die Einheimischen, „es regnet durch bis Weihnachten. Es sei denn, es schneit. Aber letztes Jahr hat es erst im Januar den ersten Schnee gegeben.“ Am Institut, das mich eingeladen hat, steht eine große Tageslichtlampe im Aufenthaltsraum. Neuankömmlingen wird empfohlen, sich mindestens eine Stunde pro Woche davor zu setzen, denn mit dem Regen kommt die Dunkelheit. Eine andere Empfehlung sind die Massagen. Zwei Masseure arbeiten drei Tage lang am Institut. Die Fellows, Wissenschaftler aus aller Welt, können sich für eine kostenlose Stunde im Monat in Harriis und Tuomas Hände begeben.

Von meiner Wohnung aus bin ich in fünf Minuten am Meer, obwohl sie in einem Erschließungsgebiet liegt. Bürogebäude stehen halb fertig in einem Birkenwald, die Zufahrtsstraßen für Baufahrzeuge werden im Winter als Langlaufloipen genutzt, die Ostsee sammelt ihr Wasser in einer flachen, schilfumstandenen Bucht, die im Winter schnell zufrieren wird. Im Radio gibt es einen finnland-schwedischen Sender, dessen Wettervorhersage länger dauert als die Nachrichten. Für jeden größeren Ort und jede Insel werden nicht nur die zu erwartenden Höchst-und Tiefsttemperaturen angesagt, sondern auch Niederschlagsmenge und Windstärken mit Windrichtung, was die Sprecher zum Ende hin vor Erschöpfung monoton werden lässt. Als Vergleich dazu fallen mir die Verkehrsmeldungen des Deutschlandfunks ein. Aber die deutschen Staumeldungen sind kürzer, und in Finnland ist das Wasser das Einzige, was sich staut.

Wäre ich in Potsdam, würde ich davon schreiben, wie mich in Helsinki manchmal ein Kindheitsgedanke durchzuckt. Heraufbeschworen von einem vertrauten Geruch, vom Anblick einer Landschaft, die nicht geordnet ist, vom Schriftzug eines Restaurants, in dem die Neonröhre flackert, oder von einem Ladenschild, das aussieht, als sollte der Laden nicht unbedingt betreten werden. Solche Ähnlichkeiten sind vage, die Vergleichsgrundlage schwach. Es ist mehr der Versuch, mir eine neue Umgebung vertraut zu machen. Und doch scheint es eine Unterströmung zu geben, eine Art Trasse, die die Erinnerungen transportiert und ausgerechnet hier wieder auftauchen lässt.

„Finnland hat viel von Deutschland gelernt“, war eines der ersten Dinge, die mir die Institutsmitarbeiterin sagte, als sie mich vom Flughafen abholte. „Der Erfinder der finnischen Schriftsprache hat Martin Luther gekannt“, sagte sie. „Und 1918, kurz nach Finnlands Unabhängigkeit, wurde ein deutscher Prinz vom Parlament zum König von Finnland gewählt. Seine Amtszeit währte allerdings nur so kurz, knapp zwei Monate, dass Friedrich Karl von Hessen-Kassel nicht einmal die Gelegenheit hatte, sein Königreich zu betreten.“ Sie wollte mir das Ankommen leichter machen. Ich musste an das finnische Schulsystem denken. In Ostdeutschland weiß man von Finnland vor allem, dass DDR-Kinder ein ähnliches Schulsystem durchlaufen haben wie der finnische Nachwuchs. Die DDR war stolz darauf. Sie bildete sich ein, für Finnland ein Role-Model zu sein, auch wenn man diesen Begriff damals noch nicht benutzte. Aber das sagte ich am Flughafen nicht. Ich hätte die gesamte Ideologie von dieser Ähnlichkeit abziehen müssen.

„Ich glaube, dass sich ostdeutsche und finnische Frauen sehr ähnlich sind“, sagte neulich eine Finnin zu mir, „im Osten ist es normal, dass man noch andere Interessen außer den Kindern hat. Dass man arbeiten geht. Man kann sich wenigstens über was unterhalten!“ Aber auch das ist es nicht. Die Sehnsucht, sich im anderen wiederzuerkennen, als könnte man sich nur so der eigenen Existenz versichern, bleibt eine Illusion. In Helsinki scheint es eher das Unähnliche zu sein, das die Kindheitsgedanken aufkommen lässt. Das Unähnliche, oder die Tatsache, dass das Vergangene in dieser Stadt ganz gegenwärtig ist. Es wird nicht wie in Potsdam weggeräumt. Die Zeit und wie sie vergeht, die Geschichte und wie sie sich überholt, das ist in Helsinki deutlich sichtbar. Man hat hier entweder keine Lust oder man sieht keine Notwendigkeit, sich mit Abreißen und Aufräumen zu beschäftigen. Man lässt das Schöne und das Hässliche einfach ineinander übergehen. Von einer neu gepflasterten Uferpromenade in der Innenstadt aus ist ein Kraftwerk zu sehen. Hinter den Fackelträgern an der Fassade des Bahnhofs, ein Prunkstück des Jugendstils, stehen graubraune Betonquader. Glänzender Globalisierungschic existiert neben rümpligem Fünfzigerjahredesign. Die Zeugnisse der langen schwedischen Regierungszeit sind ebenso sichtbar wie die der russischen Herrschaft und der späteren sowjetischen Einflussnahme. Auch Finnland hat noch immer Schwierigkeiten, mit seiner kurzen kommunistischen Periode umzugehen, mitgerissen von der Oktoberrevolution, der ein Bürgerkrieg folgte. Aber die Denkmäler verbleiben. Über die Stadt verteilt findet man Zeugnisse der unterschiedlichsten politischen Ansichten. Es gibt Statuen von russischen Zaren, von schwedischen Adligen und deutschen Soldaten, für die finnisch-sowjetische Freundschaft und den Weltfrieden ebenso wie für den ertrunkenen Seemann. Die Architektur in dieser Stadt macht das Erinnern einfach, weil sie durchlässig ist. Weil sie bei Widersprüchen nicht verkrampft. Widersprüche, die von der Straßenbahn, die keine Niederfluhrstraßenbahn ist und deren Wagons noch so altertümlich eckig aussehen, wie sie in den Achtzigerjahren in Potsdam ausgesehen haben, mühelos miteinander verbunden werden.

Als ich neulich mit dieser Straßenbahn unterwegs war, dachte ich an den Streit, der im Sommer in Potsdam entbrannte, im Zentrum das Hotel Mercure. Dieser Streit wirkt von hier aus gesehen völlig absurd. Ein Bauwerk wie das Mercure bliebe, wenn es in Helsinki wäre, selbstverständlich stehen. Es stünde wahrscheinlich neben einem wuchtigen, im nationalromantischen Stil errichteten Palast. Auf der anderen Seite würde es vielleicht an ein dynamisch-geschwungenes Museum für Moderne Kunst aus Stahl und Glas grenzen. Und im Herbst, wenn die Hässlichkeit und die Schönheit hinter der ausdünnenden Belaubung der Bäume immer stärker hervortritt, werden die Bauwerke und Denkmäler in das herbe Gelb der Birken getaucht. Und der Blick hält für einen kurzen Moment inne. Und alles verbleibt. Und so geschieht es auch im nächsten Jahr. Und nur das Wasser, das allgegenwärtig ist, wird irgendwann die Unterschiede abgewaschen und weggespült haben.

Die Schriftstellerin Antje Rávic Strubel schreibt an dieser Stelle alle drei Monate nicht nur über Potsdam

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