Kultur: Mitreißende „Ouvertüre“
Schaurig-schöne Baustellen-Premiere im Varieté Walhalla
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Schaurig-schöne Baustellen-Premiere im Varieté Walhalla Im Kamin knistert das brennende Holz. Auf den Nähmaschinen-Tischen, Marke „Singer“, verbreiten Kerzen wohliges Licht. Leise eingespielte Musik versetzt in die 20er Jahre. Keiner der zahlreichen Gäste stößt sich an noch unverputzte Wände, dem halb fertigen Fußboden oder herabhängende Kabel. Die provisorische Inbesitznahme des Varietés Walhalla in der Dortustraße 5 hinterlässt ein anheimelndes, freudiges Gefühl. Inmitten der Stadt gibt es nunmehr – schon vor der offiziellen Eröffnung Ende Mai oder Anfang Juni – eine alte, neue Adresse, wo sich Kunst und Geselligkeit paaren. „Es ist für mich ein solches Vergnügen, dass alle sitzen“, seufzt bei seiner kurzen Begrüßungsrede erleichtert Kay Bockhold, dem es mit seinem „Maulwurf“-Verein gelang, aus der Ruine wieder ein Schmuckkästchen zu zaubern. In letzter Minute seien die Stühle gekommen, auch Bühne und Wandbemalung entstanden auf dem letzten Pfiff. Doch diese Hektik kurz vor Toresschluss ist wie weggeblasen, als sich die Zuschauer mit Rotwein, Bier und heißer Suppe erwartungsfroh um die kleine Bühne drängen. Mit Christian Klischat hat das Hans Otto Theater einen gemütvollen Vertreter der Schauspielzunft für die Programm-„Ouvertüre“ ausgesucht. Seine „Geschichten von Verliesen und Verlassenen“ knistern ebenso spannungsvoll wie die Holzscheite im Kamin. Mit Franz Hohlers schaurig-schöner Erzählung vom „Haustier“ beginnt Klischat seine theatralen Wortkaskaden, die er genüsslich bis zur Neige auskostet. Staunend-naiv steht er ihm gegenüber: seinem neuen Mitbewohner, der ihm die Einsamkeit vertreiben soll. Doch dieser undefinierbare, eingerollte Pelzklumpen mit gespaltenem Huf, den er in der Zoologie erstand, entpuppt sich als stinkender, aufdringlicher Plagegeist: als der wahrhaftige Teufel. Aufbegehrend, dann wieder ängstlich-verdrossen, wägt er ab: Kann ich mich dieses „Haustiers“ entledigen? Natürlich nicht: Der Pakt mit dem Teufel ist besiegelt. Weiß Christian Klischat schon hier das Publikum mitzureißen, es durch wohl gesetzte, spannungsschürende Pausen mit auf die kafkaeske Reise zu nehmen, tritt er mit „Schischyphusch oder Der Kellner meines Onkels“ eine wahre Welle der Begeisterung los. In die tragikomische, meisterhafte Erzählung Wolfgang Borcherts schlüpft Klischat wie in einen Maßanzug. Wechselnd springt er in die Rollen der zwei Lispler, die sich gegenseitig verspottet fühlen. Volltönend lässt Klischat den Bass des bärisch-bulligen Onkels erschallen. Dann wieder mimt er den am ganzen Körper, bis in die sparsame Unterlippe zitternden Kellner, der sich dem großen Onkel ausgeliefert fühlt. Anders als der Onkel wurde dem Kellner das Lispeln zur lebenslangen, erniedrigenden Fessel. Doch Ende gut, alles gut: der bärbeißige Onkel wird schließlich von einer Welle des Mitgefühls übermannt und das arme kleine Luder, dieser „Sischyphusch“, rührt ihn gar zu Tränen. Christian Klischat, der zu den Neuen am Hans Otto Theater gehört und u.a. schon bei „Krieg und Frieden“ einen nachhaltigen Eindruck hinterließ, kann in dieser anrührend-kauzigen Geschichte seinem Affen so richtig Zucker geben und mit sympathischem Grübchenlächeln punkten. Nach diesem hintergründigen Lachsalven-„Schürer“ fällt es etwas schwer, sich noch auf Edgar Allan Poes „Verräterisches Herz“ einzulassen, das Klischat mit hypnotisierendem Blick, geballter Faust und etwas zu häufigem Raufen des Haars auch gestisch zu gestalten versucht. Insgesamt erweist er sich als köstlicher Unterhalter, der die „Feuertaufe“ der kleinen Bühne trefflich zu nehmen weiß. Seine packenden Geschichten machen Appetit auf mehr – und in bester Walhalla-Tradition wollen künftig das Theater und darüber hinaus andere Kunstanbieter ein lebendiges, „Brett’l“ etablieren, in dem nicht nur der Kamin für wohlig- anregende Wärme sorgt. Heidi Jäger Am 21. März gastiert das HOT in der Walhalla mit dem Ratequiz „Ich bin was?“
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