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Kultur: Mutig waren die anderen

Sozialismus aus der Sicht von Wolfgang Leonhard und Lothar Bisky im Nikolaisaal

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Sozialismus aus der Sicht von Wolfgang Leonhard und Lothar Bisky im Nikolaisaal Es war ein ungleiches Paar. Der eine, Lothar Bisky, kam als 18jähriger wegen seiner Ideale in den Osten und tritt als Bundesvorsitzender einer sozialistischen Partei auf, die im Überlebenskampf steckt. Der andere, Wolfgang Leonhard, hatte dem beginnenden deutschen Sozialismus den Rücken gekehrt, sobald er merkte, dass seine Freiheit in Gefahr war. Am Montag, anlässlich des Tages der Befreiung, saßen die beiden vor mehr als 200 Zuhörern nebeneinander auf dem Podium im Foyer des Nikolaisaals. Der eine glaubte zu lange an die DDR und fand doch in ihr sein Glück. Der andere schrieb im Westen Bücher über die Schrecken des Stalinismus. Eigentlich eine vielversprechende Konstellation für einen Disput, sollte man meinen. Bisky müsste doch, als Bundesvorsitzender einer Partei, die im Strudel der Selbstlegitimation steckt, eine Vielzahl von Fragen an Leonhard haben, und am besten auch gleich Antworten darauf. Hat Leonhard nicht eine Art Verrat an der sozialistischen Idee begangen, als er viel zu früh das Handtuch warf? Einen Streit anzetteln, um – wenn schon nicht inhaltlich – dann doch wenigstens rhetorisch zu brillieren? Stattdessen lehnte sich Bisky – die erste Frage nach der Gruppe Ulbricht war gestellt– in den Sessel zurück und zeigte dann eine lange Stunde seine unverhohlene Bewunderung für Leonhard durch eifriges zustimmendes Minenspiel. Das von der Ankündigung versprochene „spannende Gespräch“ war ein langer Monolog von Leonhard, den man ganz gut auch in seinem Buch „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ nachlesen könnte. Das Signal an die Öffentlichkeit eines sprachlosen, zum Statisten in Ehrfurcht erstarrten Parteichefs angesichts der überzeugenden, ja mitreißenden Schilderungen des „Kontrahenten“ von damals zeigte jedoch das Gründungsdilemma der SED-Nachfolgepartei schmerzhaft auf. Im Grunde kann man Leonhards Kritik und Einschätzung, eines Zeitzeugens im engsten Kreis der DDR-Gründerväter, nicht widersprechen. Mutig waren die anderen. Es gibt eben nicht viele Kommunisten, die von sich sagen können, sie hätten alles im Leben richtig gemacht. Wolfgang Leonhard, „letzter Überlebender der Gruppe Ulbricht“, die beauftragt war, nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands in den sowjetisch besetzten Gebieten eine neue Ordnung zu organisieren, kann das von sich behaupten und tut es selbstbewusst. Leonhard ist mit seinen 85 Jahren eine Ausnahmegestalt, eine Mischung aus Peter Ustinov und Marcel Reich-Ranicki mit allen ihren Qualitäten als Selbstdarsteller, Geschichtenerzähler und historischer Alleinunterhalter. Die aufregenden Tage Ende April und Anfang Mai 1945 hat er in allen Einzelheiten im Gedächtnis, die Reise vom Moskauer Hotel Lux ins Ungewisse des zerbombten, noch schwelenden Berlins, die enttäuschten Hoffnungen auf einen demokratischen Sozialismus und seine Flucht 1949 unter Lebensgefahr nach Jugoslawien. Auch seine Begegnungen mit Tito kann er minutiös darstellen, er erzählte kraftvoll und raufte sich die silberne Tolle, wenn seine Erinnerung ein besonders haarsträubendes Ereignis streifte. Zwei Stunden eindrucksvolle und lebendige Zeitzeugendarstellung, und ein blasser Bisky, womöglich aus Respekt. Auch in den Zukunftsvisionen schien Leonhard überlegen: er sah eine Chance für den Sozialismus, wenn er sich denn mit den, so seine Einschätzung, neuen, sehr mächtigen christlichen Sozialbewegungen zusammentut. M. Hassenpflug

M. Hassenpflug

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