Kultur: Närrisch in den Frühling
Projekt Narrenschiff mit Lesung von Helma Sanders-Brahms in der Villa Kellermann
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Die Lesungen zur Narretei finden im Kaminzimmer statt. An diesem Sonntag liest die Regisseurin und Drehbuchautorin Helma Sanders-Brahms. Als die Scheite im Feuer zu knistern anfangen, hat sich ein Kreis von zehn Zuhörern gebildet. Die Glut wirft ihr Licht auf die Kunst. Jemand sagt, schau mal, die Figuren tanzen. Draußen der See im Weiß des Schnee. Vorleseatmosphäre. Sanders-Brahms stellt sich vor. Von „Königen des Kinos“ hätte sie lernen dürfen. Sie war am Set mit Pier Paolo Pasolini. Ihr Film „Deutschland bleiche Mutter“ gilt etwas in der Filmwelt, im vergangenen Jahr hat sie den Bayerischen Staatspreis Corine für ihre Hörfunkproduktion „1001 Nacht“ erhalten.
Sie liest in der Villa Kellermann das Märchen „Baron Hüpfenstich“ von Clemens von Brentano. Der sei „fast ein Surreallist“, sagt sie und bannt ihr Publikum regelrecht mit ihrer Vorführung. Ihre Stimme schlüpft in die Rollen des Königs Halteworts und seiner Tochter, der neugierigen Prinzessin Willwisschen. Bald kommt Hüpfenstich, eigentlich ein blutsaugender Floh, und schließlich der privatisierende Menschenfresser Wellewatz, der die Prinzessin auf sein Knochenschloss mitnimmt. Die närrische Entourage des romantischen Märchens wird eine kurze Stunde von Sanders-Brahms zum Leben erweckt. Für alle eine Entdeckung. Absonderliche, irrwitzige Einfälle, skurrile, unerwartete Geschehnisse. Und am Ende kommt doch der schöne Prinz zum Vorschein.
Das Projekt „Narrenschiff“ gehört zum Spannendsten des Potsdamer Kulturfrühlings. Eine Fahrt mit diesem Schiff ist ein Muss. Der für sein Projekt aus Kunst und Literatur in die Villa Kellermann eingezogene Kreuzberger Galerist Manfred Giesler fand sein Thema in der frühen deutschen Literatur. Die 1494 von Sebastian Brant verfasste Moralsatire „Das Narren Schyff“ zählt so ziemlich jede Narretei auf, die man sich damals vorstellen konnte. Zur bildlichen Volkserziehung ist jeder der Figuren ein Holzschnitt mitgegeben. Mehr als zwei Drittel davon werden dem jungen Albrecht Dürer zugeschrieben. Das Buch war der größte deutsche Bucherfolg vor Goethes „Werther“.
Giesler versammelte in der Villa am Heiligen See spektakuläre Werke u.a. von F. W. Bernstein, Achim Freyer, Hans Scheib und Johannes Grützke. Er bietet bis Mitte Mai ein prominent besetztes Programm. „Gelegenheitslyriker“ und Karikaturist F. W. Bernstein hat nach der Eröffnung des Kunstprojekts am Aschermittwoch bereits begonnen, ein riesiges Wandgemälde in der Villa Kellermann zum Thema „Narrenschiff“ zu gestalten. „Wird nie fertig“ steht da zwar in diesem närrisch-bunten Figurenpanoptikum. Geleerte Weinflaschen inmitten von Pinseln und Farbtöpfen zeigen dennoch, dass es auf jeden Fall weiter gehen wird. Eine Vielzahl von verschroben-romantischen Bernstein-Originalen in Postkartenformat hängen in diesem Raum, bereit, für 50 Euro „inklusive Nagel“ erworben zu werden. Bernstein, Erfinder des Satzes „Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche“ liest am 30. April. Davor kommen u.a. noch Wiglaf Droste (26. März) und Jan Philipp Reemtsma (23. April) an den Kamin.
Johannes Grützkes verknautschte Fratzen haben auch etwas Närrisches. Wie Fotos, die in genau dem falschen Augenblick entstanden sind, zeigen sie in einem verrückten bestechenden Realismus den Mensch in Wut, Aufregung oder schlicht: in seiner oft peinlichen Wahrhaftigkeit. Die Skulpturen von Hans Scheib sind aus Holzblöcken gehauen und vielfarbig angepinselt. Tänzer, ein Abbild eines seltsam bekleideten Berliner U-Bahn-Originals oder ein grellgelb-blauer Kentaur mit wild gewordener, geschwollener Sexualität.
Die Großformate von Biene Feld leben auch von intensiven Farbtönen, doch zeigen ihre menschliche Silhouetten auf Plätzen und vor Gebäuden, dass das Verrückte als Gesamtsystem zu verstehen ist. Großartig Achim Freyer Interpretation. Ein Einbaum mit fünf Ruderern setzt sich abstrakt aus schwarzen Pinselstrichen auf einer ansonsten weißen Leinwand zusammen. Hier narrt sich der Betrachter beinahe selbst.
Projekt Narrenschiff: bis 14. Mai (Klezmer Musik) in der Villa Kellermann, Mangerstr. 34, Öffnungszeiten: bis Ostern: Do. – So. 16 – 19 Uh; danach Di. – So. Tel.: 291572
Matthias Hassenpflug
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