
© Johanna Bergmann
Pangea: Tanzen mit Multipler Sklerose: Nicht auf die Krankheit schauen
Wer tanzt, braucht den Körper als Werkzeug. Was aber, wenn der Körper nicht mehr mitmacht und gehorcht, wenn er schmerzt oder gar wie das Messer eines Handwerkers schartig geworden ist?
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Wer tanzt, braucht den Körper als Werkzeug. Was aber, wenn der Körper nicht mehr mitmacht und gehorcht, wenn er schmerzt oder gar wie das Messer eines Handwerkers schartig geworden ist? In der fabrik zeigt das Ensemble Pangea.unique dance am Samstag die Premiere ihrer neuesten Produktion „Sssss....“. Mit dem Stück will die Potsdamer Choreographin Lydia Müller die Weiblichkeit beleuchten als eine Art Begegnung mit sich selbst, der eigenen Geschichte und eben dem Körper. Denn irgendwann in ihrem Leben bekamen alle neun Frauen des Ensembles die Diagnose Multiple Sklerose gestellt.
„Ich wollte, dass das nicht aufhört mit dem Tanzen“, sagt Sigrid Simon-Glinka über jene Zeit, als sie von der entzündlichen Krankheit ihres Nervensystems erfuhr. Die ausgebildete Bewegungspädagogin für künstlerischen Tanz fand vor vier Jahren zu dem Ensemble. „Wir brauchen nicht viele Worte, denn wir alle haben ähnliche Empfindsamkeiten“, sagt sie über Pangea. Sie leitet an diesem Vormittag das Aufwärmtraining auf der Bühne, zeigt Bewegungsabläufe der Arme, bei der selbst die Choreographin durcheinanderkommt. Ein Körper kippt kurz zur Seite, wird aufgefangen.
Auf der Großen Bühne in der fabrik stehen Gartenstühle, der Boden ist weiß, wie eine Folie, auf der sich das Leben neu einschreiben lässt. „Mein Ansatz war, überhaupt nicht auf die Krankheit zu schauen und sie zu thematisieren,“ sagt Lydia Müller. Schließlich fühle sie sich dem postmodernen Tanz verpflichtet, bei dem das Elitäre der Kunstform abgestreift wird, auch Alltagsbewegungen zur Aufführung taugen und Tanz sich für alle öffnet. Mit eigenen Stücken war Müller des Öfteren auf den Potsdamer Tanztagen zu Gast, sie arbeitete aber auch mit internationalen Choreographen wie Royston Maldoom („Rhythm is it!“) zusammen.
Die Produktion „Sssss....“ ist weit entfernt davon, die Inszenierung eines Leidens zu sein. Stattdessen hat Lydia Müller die Tänzerinnen dazu bewegt, ihre Leben als Frauen zu erforschen. Das Thema liegt nahe, auch weil die eigene Identität neu austariert werden muss, wenn das Etikett „behindert“ von außen dazukommt.
Selbst wenn das Eingeschränktsein nicht im Fokus stehen soll, blendet es sich doch immer wieder ein. Allein in dem Titel, den Tänzerin Sigrid Simon-Glinka so deutet: Das „S“ ist in seiner geschwungenen Form sei für sie der weiblichste Buchstabe des Alphabets. Mit der aufsteigenden und der absteigenden Kurve symbolisiere er aber auch die zwei Gemütszustände. „Wir brauchen ganz viel Schwung, um jeden Tag in der oberen Kurve zu sein“, sagt sie.
Anders als frühere Arbeiten des seit 2009 bestehenden Ensembles – „Sssss....“ ist ihre dritte Produktion – stellt die neue Choreographin die Tänzerinnen vor ungeahnte Aufgaben. „Dieses Projekt ist ganz anders“, sagt Sybille Gutsch, Gründungsmitglied des Ensembles. Früher seien die Bewegungsabläufe von der jeweiligen Choreographin festgelegt worden. Diesmal ist es kein Tanzen nach Vorgabe. Lydia Müller setzt lediglich Impulse und lehnt es auch mal ab, wenn die Tänzerinnen Hilfe einfordern. Diese Konsequenz soll letztlich zu einem eigenen künstlerischen Ausdruck auf der Bühne führen. „Alles, was wir zeigen, kommt von uns“, so Gutsch. Die 54-Jährige wollte schon als Kind Tänzerin werden, die Eltern aber waren dagegen. Erst die Krankheit habe sie nun zu einer gemacht. „Schön, dass ich jetzt meinen Traum leben kann“, sagt sie scheinbar unbeirrt.
Natürlich sind sie alle keine Profis. Momente großer Schönheit können aber auch so auf einer Bühne entstehen.
„Sssss....“ von Pangea. unique dance am Samstag um 20 Uhr und Sonntag um 17 Uhr in der fabrik. Eintritt acht Euro.
Grit Weirauch
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