Kultur: Ohne Grenzen
E–Musik, Jazz, Pop, Weltmusik: Kronos-Quartet im Nikolaisaal
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E–Musik, Jazz, Pop, Weltmusik: Kronos-Quartet im Nikolaisaal Von Sonja Lenz Im Elfenbeinturm der Neuen Musik haben sie die Fensterläden knallbunt angemalt. Dann haben sie die Tür weit aufgerissen, intellektuellen Staub hinausgefegt und sämtliche Moderne-Muffel zur Party eingeladen. 1973 feierte das Kronos Quartets den Beginn einer neuen Ära. Seitdem spielen die vier kalifornischen Abenteurer fast ausschließlich Werke des 20. Jahrhunderts - und alle hören hin. Weil sie davon überzeugen, dass Kompliziertes und Esoterisches aufregend klingen kann. Weil sie Unordnung in die sorgfältig getrennten Stilschubladen bringen und sich wie Popstars vermarkten. Im Nikolaisaal führt das erste Stück nach Bollywood. Die vier Streicher präsentieren Filmmusik des legendären indischen Zelluloid-Revolutionärs Rahul Dev Burman, von dem hier zu Lande ungerechter Weise kaum jemand etwas gehört hat. Mit Pizzicati, Glissandi und zierlichen Tonverschlin-gungen verbreiten sie fernöstliche Atmo-sphäre zu den Trommelrhythmen vom Band. Das zweite Stück stammt von dem ebenso unbekannten äthiopischen Starsaxophonisten Gétatchèw Mèkurya. Das Quartett verlässt die Sphäre der Santur und heftet sich – besessen von einem kleinen Sieben-Ton-Motiv – an die Fersen der arabischen Spießgeige Rebab. Die Weltenbummler laden zu einer musikalischen Reise ein. Freilich in die versteckten Winkel und nicht in die Touristenzonen. Weiter geht es nach Mexiko, zu Felipe Pérez Santiago „Camposanto“. Das kompakte, klangverliebte Werk ist vom geheiligten Boden des Friedhofs inspiriert. Das Kronos Quartet hat es im Rahmen seines „Under 30“-Projekts in Auftrag gegeben. Junge Komponisten aus aller Welt haben den berühmten Streichern im vergangenen Jahr zum 30. Geburtstag gratuliert. Die Anfänge liegen weit zurück. David Harrington, der Kopf des Ensembles, war seit seiner Jugendzeit vom Streichquartettklang fasziniert. Er spielte brav seinen Beethoven, Haydn, Schubert und war doch eigentlich auf der Suche nach dem Neuen, Unerhörten, Bahnbechenden. Seine Vision nahm Gestalt an, nachdem er George Crumbs Grenzen sprengende „Black Angels“ im Radio gehört hatte. Noch im selben Jahr gründete er das Kronos Quartet, mit dem alle Experimente, Stil- und Tabubrüche möglich sein sollten. Der Name beruht auf einem Missverständnis. Harrington wollte sein Ensemble eigentlich nicht nach dem wütenden Titanen benennen, der seinen Vater entmannt und seine Kinder verschlungen hat. Nein, er meinte „Chronos“, die Zeit. Als er seinen Irrtum bemerkte, war es zu spät. Das Kronos Quartet war schon bekannt. Außerdem, dachte er, ist ein wilder, unangepasster Titan als Namenspatron auch nicht so schlecht. Die unkonventionelle Art der Kronisten sprach sich in den Siebzigern schnell herum. Nicht im Frack, sondern in modischfarbigem Outfit saßen sie auf der Bühne. Eine dezente Lightshow schuf Atmosphäre zur Musik. Die Musiker redeten sogar mit ihrem Publikum. Das Programm pendelte überraschend zwischen E-Musik, Jazz, Rock und Weltmusik aus Afrika, Lateinamerika oder China. Die Streicher benutzten elektronische Verstärkung und Effekte wie die Rockstars. Das alles ist bis heute so. Wechselnde Lichtfarben auf dem Vorhang und dem Boden begleiten die Potsdamer Reise durch gefälliges und obskures musikalisches Neuland. Schattenspiele auf den Wänden unterstützen den dramatischen Höhepunkt von Alexandra du Bois „Oculus“, das mit Geigenschluchzern, spitzen Schreien, knallenden Saiten und nervösem Zittern Ghandis Ausspruch „Auge um Auge macht die ganze Welt blind“ interpretiert. Eine Komposition des Jazzbassisten Charles Mingus findet ebenso Platz im Programm wie das furiose „Triple Quartet“ des Minimal-Music-Pioniers Steve Reich. Die technische und stilistische Vielseitigkeit des Ensembles kennt keine Grenzen. Über Geschmack lässt sich freilich nicht streiten. Ob das seichte Arrangement der isländischen Popgruppe Sigur Rós ein Gewinn für den Abend ist, mag man bezweifeln. Wenn der Primarius mit einem Metallröhrchen auf den Saiten herumrutscht, um Blind Willie Johnsons Slide-Gitarren-Spiel nachzuempfinden, sieht das origineller aus, als es klingt. Nicht jedes einzelne Stück, aber die Mischung aus Entlegenem und Klassischem, Hochvirtuosem und Kindlich-Verspieltem überzeugt. Die Stimmen, die die Viererbande als poppige Paradiesvögel und Scharlatane abtun wollten, sind längst verstummt. Das Kronos Quartet hat mit Können und Mut zur Veränderung von Hörgewohnheiten beigetragen. Aus den Pionieren sind selbst Klassiker geworden. Die Potsdamer lassen sich begeistern. Das Kronos Quartet bedankt sich mit drei Zugaben.
Sonja Lenz
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