Das Märchen „Die Leichenfresserin“ von Oskar Panizza (1853-1921) sollte man kleinen Kindern besser nicht zum Einschlafen vorlesen. Schon der Anfang ist verwirrend anders, als andere Märchen: Wenn sie mit 20 Jahren stirbt, sagt die Prinzessin zum König, soll ihr Sarg in einer Kapelle mit Wache stehen. So ist es dann auch geschehen, erzählt das Märchen. Doch dann beginnt das Massaker. Die tote Prinzessin wird zum Vamp, mordet und frisst ihre Wachen. Ein Schneidergeselle ist es am Ende, der sie von ihrem Wahn erlöst. Happy End: Da schimmert dann doch wieder das bekannte Märchen durch in der ansonsten ziemlich grausamen Geschichte.
Texte des skurrilen deutschen Autors Panizza sind denn auch die Ausnahme in der 2. Märchennacht am Samstag im T-Werk und eher für das ältere Publikum gedacht (ab 10 Jahren). Deshalb die späte Aufführungszeit um 21 Uhr. Das Gros der präsentierten Stücke kommt harmloser daher, „wenn auch nicht glatt und seicht“, verspricht T–Werk-Leiter Jens-Uwe Sprengel. Leitthema ist – nach dem erfolgreichen „In 80 Märchen um die Welt“ im vergangenen Jahr – das Kunstmärchen. Auf dem Programm stehen „Der kleine Häwelmann“ nach Theodor Storm (16 Uhr), „Puck der Zwerg“ nach Jakob Streit, und Hans Christian Andersen mit „Die wilden Schwäne“ (17 und 19 Uhr) und „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ (18 Uhr).
Das besondere an der Nacht seien die sehr unterschiedlichen Geschichten, die nicht in das übliche Märchenklischee von „Prinzessin auf der Suche nach dem Prinz“ und der typisch Grimmschen Moral am Schluss passen und die sehr verschiedenen Ansätze, in denen sie erzählt werden, sagt Sprengel. Vom Schattentheater über musikalische Inszenierung bis zum Schauspiel und Objekttheater ist alles dabei. Inszeniert werden die Stücke von renommierten Theatermachern wie dem „Figurentheater Wilde und Vogel“ aus Leipzig, dem „Theater Therese Thomaschke“ aus Magdeburg oder dem Potsdamer „Theater Nadi“. Von 16 bis 19 Uhr sind Märchen für „alle von 4 bis 104“ angesagt. Die anschließenden Aufführungen richten sich an Menschen ab 10. Gegen Reizüberflutung sind vorbeugend kleine Pausen zwischen den Märchen eingeplant. Im Foyer kann man sich mit Snacks stärken.
Märchen bleiben immer interessant, sagt Jens-Uwe Sprengel: „Sie bieten die Chance, eine Kunstwelt zu entwerfen, die mit viel Fantasie Bildhaftes freisetzt und Realität reflektiert – obwohl sie weit von ihr entfernt scheint.“ Didaktische Zeigefinger findet er nur in den Grimmschen Märchen, die auch zur Erziehung verfasst wurden. Die Gebrüder sollen die abschließenden Moralen auch erst an die von ihnen schriftlich festgehaltenen, vom Volk erzählten Märchen angehängt haben. Moral spielt aber in Märchen eigentlich keine Rolle, sagt der Theatermann. Sondern, wie die Figuren mit ihren Ängsten umgehen, wie sie handeln, um sich und die Welt zu verändern. Im T-Werk kommen in diesem Sinne nur „unmoralische“ Märchen auf die Bühne. Marion Hartig
T-Werk in der Schiffbauergasse 1, Sa 16 bis 24 Uhr, 12-4 Euro, Tel.: 0331/7191 39
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