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Kultur: Parallel-Lesungen

Facettenreich, ichlastig und leicht verdaulich: Die 4. Brandenburgische Literaturnacht im Hans Otto Theater

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Facettenreich, ichlastig und leicht verdaulich: Die 4. Brandenburgische Literaturnacht im Hans Otto Theater Nur ungefähr zwanzig Leute versammelten sich vor der Kafka-Bühne, um dem literarischen Nachwuchs, der den Anfang machte, zuzuhören. Doch mit jeder Lesung wurde es voller im Hans Otto Theater (HOT), wo letzten Samstag die 4. Brandenburgische Literaturnacht veranstaltet wurde. Der Inhaber des „Literaturladens“ in der Brandenburger Straße, Carsten Wist, hat, zusammen mit dem HOT, der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg, dem Brandenburgischen Literaturbüro und der Buchhandlung „Internationales Buch“, diese Nacht geplant und inszeniert. Freundlich zeigte Carsten Wist den Besuchern und Besucherinnen den versteckten Weg zur Hinterbühne, wo die eine Hälfte der Lesungen stattfand. Die Kafka-Bühne, dort fand parallel die andere Hälfte der Lesungen statt, ist nur dürftig vom Zuschauerraum abgetrennt und gehört somit zum selben Raum wie die Hinterbühne. Deshalb klang während der Lesung von Maja Starke, Markus Lange und Anne Sofie Trahorsch, alle 21 Jahre alt und aus Potsdam, das Live-Hörspiel von Friedrich Dürrenmatt („Abendstunde im Spätherbst“) herauf. Gerade erst hatte Markus Lange im Anschluss an sein Gedicht „Ein Herz aus weißen Rosen“ seiner im Publikum sitzenden Freundin ein öffentliches „Schatz, ich liebe dich“ gestanden, als der Ruf „Elvira?!“ von der Hinterbühne erscholl. Die drei Lesenden ließen sich nicht aus dem Konzept bringen. Maja Starke las von einem psychisch kranken Mädchen und Anne Sofie Trahorsch von einem kleinen Jungen in Paris, dem die Haare ausgefallen sind und der die Bekanntschaft eines Obdachlosen macht. Bei der Lesung des diesjährigen Peter-Huchel-Preisträgers Rolf Haufs (1935 in Düsseldorf geboren) erzeugte die akustische Verbundenheit der beiden Leseorte vielleicht Neid. Denn während Rolf Haufs über seinen Lyrikband „Augustfeier“ (1995) gebeugt blieb und durch unmotiviertes Sprechen den Zugang zu seinen Gedichten nicht gerade erleichterte, drang von der anderen Bühne vergnügtes Gelächter herüber. Jenni Zylka, Kolumnistin bei der TAZ, lieferte mit ihrem Buch „1000 neue Dinge, die man bei Schwerelosigkeit tun kann“ (2003) den frechsten und witzigsten Beitrag. Bei Abini Zöllner (1967 in Ost-Berlin geboren) hatte die Schallüberlagerung den Vorteil, dass ihr der Applaus der Parallel-Lesung (Michael Lentz) den Blick auf die eigene Uhr ersparte. Die Mutter von zwei Kindern hat dieses Jahr ihr autobiografisches Debüt veröffentlicht: „Schokoladenkind. Meine Familie und andere Wunder“ Abini Zöllner sagte lachend, sie sei hauptberuflich Tochter ihrer Mutter, die Jüdin ist. Die Mutter gab ihr den Namen „Du bist mein mir vom Himmel geschickter Anteil“. Und der nigerianische Vater zeigte ihr, wie man mit den Händen isst. Eine ganz andere Jugend, in der DDR der Nachkriegszeit, schilderte die Potsdamer Autorin Helga Schütz (1937 in Schlesien geboren). Sie las aus dem noch unveröffentlichten Manuskript mit dem Arbeitstitel „Rettet die Zitronen“. Auch Kerstin Hensel (1961 in Chemnitz geboren) wandte sich weiter zurück. Ihr neuer Roman „Im Spinnhaus“ umgreift, im tiefsten Erzgebirge spielend, das gesamte 20. Jahrhundert. Am mitreißendsten war wohl die Lesung der Thomas Brasch-Texte durch die Schauspielerin Anna Thalbach, seine Tochter. Sie arbeitete Rhythmus und verschiedene Bedeutungsebenen heraus, sie spielte, sie war die Texte. Auch Norbert Leisegang schauspielerte. Zusammen mit dem Trompeter Frank Braun präsentierte er Gedichte und wenige Lieder. Nicht dieser betont lässige Typ, der Keimzeit-Star, nahm für sich ein, sondern seine Stimme. Hoher, im Ansatz sexy krächzender Singsang: „Ich lieb dich für immer, hat er ihr versprochen.“ Dagmar Schnürer Geschichten am Bühnenrand Interessant war der Feuerwehrmann. Zu Beginn jeder Lesung, ob nun auf der Haupt- oder Kafka-Bühne, erschien die hagere Gestalt in Uniform am Bühnenrand und wartete. Wartete auf die Nachzügler, die immer kamen und sich nicht durch besetzte Stuhlreihen zu freien Plätzen zwängen wollten, sondern verstreut auf der Treppe Platz nahmen. Er ließ ihnen ein paar Minuten, dann bewegte er sich langsam, aber zielgerichtet aus seiner Ecke. Jeden einzelnen, auf der Treppe Sitzenden, sprach er an, freundlich aber bestimmt. Es ging um Brandschutz, dass für den Notfall die Treppen als Fluchtwege dienen und frei bleiben müssen. Ein wenig grotesk angesichts der überschaubaren Anzahl von Gästen. Aber Vorschriften kennen kaum Spielraum. Und der Feuerwehrmann hatte immer den unschuldigen Blick eines Vertreters einer höheren Instanz, dessen Vorschriften er nicht gemacht hatte, die durchzusetzen aber seine Pflicht war. Kafkaesk würden Germanisten diese Situation bezeichnen. So fanden sich die besten Geschichten der Brandenburger Literaturnacht also am Bühnenrand? Ganz so schlimm war es nicht. Facettenreich das Angebot der Lesungen. Kurz und leicht verdaulich, im 20 Minutentakt Häppchenweise gereicht. Das meistgehörte Wort in den verschiedenen Geschichten war schnell ausgemacht: Ich. Die Selbstbespiegelung, die Nabelschau der eigenen Persönlichkeit, und sei sie noch so profan, deutsche Autoren lieben die erste Person Singular, auch auf die Gefahr der Übersättigung hin. So thematisiert die Potsdamer Autorin Julia Schoch, die vor zwei Jahren ihr viel beachtetes Debüt „Der Körper des Salamanders“ veröffentlichte, in der Geschichte „Minus“ ein seltsames Beziehungsgeflecht zwischen der Icherzählerin und einem gewissen Matok. Wie schon in „Der Körper des Salamanders“ spielt Julia Schoch auch hier mit den Andeutungen. Die Kälte die zwischen den beiden Personen zu stehen scheint, findet ihre Entsprechung in dem Dezemberfrost, in den die Autorin ihre Erzählung stellt. Und erst in dieser todbringenden Kälte, auf einem zugefrorenen See, finden die beiden zueinander. So, wie sie es in ihren besten Zeiten vielleicht oder vorher nie waren. Doch die Kälte, die Julia Schoch mit ihrer Sprache vermitteln wollte – in der überheizten Blechbüchse hatte sie keine Chance. In ihrem zweiten Roman „Mitgift“, für den Ulrike Draesner den Preis der Literaturhäuser erhielt, verbindet sie Liebes- und Familiengeschichte, Irritationen über den eigenen Körper, die Sexualität in den Figuren der Schwestern Aloe und Anita und Lukas. Doch nur für zwei Ausschnitte reichte die Zeit. Ein altes wie lächerliches Essensritual in Oxford, in dem Ulrike Draesner ihr Talent für Spannung und Zuspitzung voll ausleben ließ und das erste gemeinsame Essen von Aloe und Lukas, das fast schon zwangsläufig im Bett enden musste. Im Foyer zu fortgeschrittener Stunde dann die szenische Lesung aus Frank Goosens „Liegen lernen“, das erst kürzlich verfilmt wurde. Doch die redlichen Bemühungen der Schauspieler täuschten nicht über die platt-pubertierende Geschichte hinweg, in denen Halbwüchsige augenrollend von großen Frauenbrüsten schwärmen. Und so wird das unterdrückte Gähnen mancher Gäste nicht allein Müdigkeit gewesen sein. Dirk Becker

Dagmar Schnürer

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