Die Musik tröpfelt wie Regentropfen in die gebaute Bühnenlandschaft. An der linken Wand ist das Foto einer Großstadt projiziert. Ihr gegenüber stehen blattlose Bambusstäbe, die wie eine Mahnwache an vergangene Zeiten erinnern. In diesem spannungsreichen Kontrast zwischen Großstadtmoloch und ursprünglichen Leben steht eine schachtelförmige, miniaturhafte Stadt – wie aus der Retorte. Kein Strauch, kein Baum, keine Farbe. In Schwarz und Grau gekleidete Wesen bevölkern dieses streng abgesteckte Geviert. Sie kreisen ziellos und gedankenverloren um sich selbst. Unter ihnen ist ein Mann, dessen Körper noch nicht verhangen ist, der seine Brust selbstbewusst zur Schau stellt. Er ist der Neuankömmling, der seinen Namen und die Umstände vergessen hat, die ihn in diese von hohen Mauern umgebene Stadt führten. Während die anderen in dieser Welt glücklich zu sein scheinen, ist er in einem tiefen Zwist. Denn er darf hier nur leben, wenn er sich von seinem Schatten trennt.
Die von der Künstlerkolonie Schütte & Raibach auf die Bühne der Schinkelhalle gebrachte Inszenierung bedient sich einer gleichnishaften Poesie, für die sie bei dem japanischen Erfolgsautor Haruki Murakami fündig geworden ist. Nach Motiven seines Romans „Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt“ entstand ihre Theaterversion „a city called paradise!“ Es gelingt den sieben Darstellern in der Regie von Horst-J. Lonius eine wunderbare Verschmelzung von Chor, Puppenspiel und Sprache. Behende wechseln sie die Ebenen und Rollen, schaffen eine spannende, getragene Atmosphäre. Die Geschichte erscheint abstrakt und verlangt danach, mit eigenen Gefühlen und Gedanken angereichert zu werden. Die mit fernöstlichen Theaterelementen präzise durchchoreografierte Inszenierung (Theresa Butter) lässt dafür viel Raum, den vielleicht nicht jeder zu füllen bereit ist. Lässt man sich indes auf diese gleichnishafte Parabel ein, werden die fast drei Stunden zu einer unaufdringlichen Verzauberung. Man fühlt mit dem Neuen, der sich so schwer tut, in dem vermeintlichen Paradies anzukommen. Das Leben dort ist einfach. Man kämpft nicht gegeneinander, keiner ist dem anderen überlegen. Aber dieses traumhafte Leben ohne Hass und Begierde ist zugleich auch seelenlos. Man kennt kein Glück, keine Liebe, keine Freude. Und der Neuankömmling, der zum Traumleser auserkoren wird, spürt dies schmerzhaft. Denn er verliebt sich in die Bibliothekarin, die seine Gefühle nicht erwidern kann. Sie ist seelenlos. Der Traumleser ist hin-und hergerissen. Auf der einen Seite möchte er aus dieser festungsgleichen Stadt entfliehen – gemeinsam mit seinem Schatten, der immer mehr an Kraft verliert. Doch er möchte auch die Bibliothekarin retten.
Michael Putschli, der den Traumleser spielt, durchläuft die größte Entwicklung und er weiß dies auch spielerisch eindrucksvoll umzusetzen. Doch auch die anderen Darsteller bestechen durch ihr sehr präsentes, ausdrucksstarkes Agieren und ihren klaren sprachlichen Duktus. Sie ziehen die Zuschauer mit hinein in diese ferne und auch vertraute Welt. Gerade in ihrem Puppenspiel wissen sie immer wieder mit überraschenden Bildern zu faszinieren: Wenn mit einem weißen Laken die Schneelandschaft über den einsamen Traumleser fällt, wenn der Schatten kraftlos am Stock geht oder mit einem Fächer Schneeflocken aufwirbelt.
Die Tristesse in der Stadt, in der man das Licht scheut, erinnert an das abgesperrte Dasein hinter DDR-Mauern, aber auch an die Kapitalgesellschaft. Man produziert und produziert, doch die Seele des Menschen geht dabei verloren. Und das war wohl auch der Ansatz für diese Produktion. Denn Schütte & Raibach versteht sich als Netzwerk, das freiberuflichen Künstlern eine Chance gibt, kreativ wirksam zu werden – gerade in Phasen wirtschaftlicher Bedrängnis. Die Seelenlosigkeit ist kein abstrakter Begriff, sondern untersetzt mit eigenem Erleben. Aber alle wissen auch, genau wie der Traumleser: Es gibt kein schattenloses Dasein, keine Vollkommenheit auf dieser Welt.
Erneut am 22., 23., 24. August, 20 Uhr
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