
© Manfred Thomas
Kultur: Potsdamer lächeln nicht
Die Schriftstellerin Christine Anlauff war mit dem Fahrrad unterwegs, als eine einfache Feststellung ihr Weltbild zum Einstürzen brachte
Stand:
Jüngst gondelte ich mit dem Fahrrad und einem Packen unserer neuesten Stadtteilzeitung zur Uni am Neuen Palais und dachte über das Wetter nach. Das Radio hatte Schauer orakelt, die sich aber offenbar noch in Vorbereitung befanden, nun versuchte ich anhand von Wolkenfärbung und Windstärke zu berechnen, ob er mich auf dem Hin- oder Rückweg oder gar nicht mehr erwischen würde. Meine meteorologischen Studien begleitete zu beiden Seiten Lennésches Erbgut in Form sanfter Wiesenlandschaften, die selbst den verstocktesten Naturmuffel verlockt hätten, ein Herbarium anzulegen. Die Aromen des Sommers kollidierten in der Luft, und ein paar Singvögel diskutierten die Risiken der Verdauung eines am Wegrand entsorgten Döners. Vor mir bewegten sich ein junges Paar zu Fuß, ein älteres zu Rad. Kurz: Es war alles in Ordnung.
Noch.
Bis zu dem Moment, als das ältere Paar das jüngere überholte.
Dessen weiblicher Teil wandte den Kopf, blieb stehen und sagte laut zu ihrem Gefährten: „Ist dir aufgefallen, dass die Potsdamer alle lächeln?“
In diesem Augenblick fuhr ich an ihr vorbei. Sie sah mich an und fügte hinzu: „Die Frau hier auch.“
Ich radelte weiter. Überholte auch das ältere Paar und erforschte dabei ihr Mienenspiel mit der Folge, dass die beiden mir freundlich zunickten. Da erklang plötzlich ein Knirschen, gefolgt von einem morschen Knacken und schließlich einem dumpfen Ton der Art, der Bewohnern von Erdbebengebieten sagt, dass unweit ein Haus zusammengebrochen ist.
Bei mir war es das Weltbild.
Oder ich hatte einen Hörsturz.
Ja, das musste es sein: ein Hörsturz, der mit verzerrten Sinneswahrnehmungen einherging. Nie im Leben hatte die junge Frau eben die Worte „Die Potsdamer lächeln alle“ gesprochen. Stattdessen hatte sie wahrscheinlich „Die Potsdamer hecheln alle“ gesagt, was ich zwar etwas respektlos fand, angesichts der Jogger, die allenthalben ihre Bahnen durch den Park zogen, aber nachvollziehbar.
Einigermaßen beruhigt schloss ich mein Rad an der Uni- Cafeteria an, ging hinein und hätte die Angelegenheit vergessen, wenn sich in meinem Rücken nicht zwei Studentinnen unterhalten hätten. Es ging um etwas Privates, das mich weder betraf noch interessierte.Trotzdem traf es mich wie ein Stromstoß. Und zwar deshalb, weil ich es HÖRTE! Ich verstand jedes Wort! Ergo war mit meinen Ohren alles in Ordnung. Ergo konnte ich mich nicht mit einem Hörsturz herausreden, ergo hatte das Fräulein auf dem Ökonomieweg tatsächlich von lächelnden Potsdamern geredet. Mit zitternden Knien verließ ich die Cafeteria.
Auf dem Heimweg begann es zu regnen. Gleichzeitig kam mir eine neue Idee: Was, wenn das junge Paar vorhin nicht wie vermutet Touristen, sondern angehende Soziologen waren, die Verhaltensstudien betrieben? Über derartige Tests hatte mir vor Jahren ein Freund berichtet, ehe er sein Soziologiestudium nach knapp 30 Semestern abgebrochen hatte. Man konfrontiert beliebige Probanden mit einer Situation oder Aussage und wertet ihre Reaktionen aus. In diesem Fall hätte die Aufgabe lauten können: Erforschen Sie die Wirkung einer absurden Behauptung.
Denn absurd war sie.
Potsdamer lächeln nicht.
Wer sollte das besser wissen als eine Eingeborene.
Und wenn es ihnen doch einmal passiert, bestimmt nicht in Gegenwart Fremder. Das ist eine lokale Eigenschaft, die der Potsdamer sich mit seinen Brandenburger Landsleuten teilt, allerdings handhabt er sie subtiler, wodurch er für Uneingeweihte zuweilen zu grinsen scheint, wenn er die Zähne fletscht.
Zum Lächeln hat der Potsdamer auch keinen Grund.
Seit Ewigkeiten sitzt er auf asthmaerregendem Sumpfland und fristet sein Leben abwechselnd als Fischer, Soldat, Beamter oder ist von diesen Berufssparten umgeben, und keine davon ist für verschwenderische Lebensfreude und Herzlichkeit berühmt. Amerikanische Wissenschaftler (wer sonst) haben nachgewiesen, dass eine bestimmte Schwalbenart nur zwei Generationen benötigt, um ihre Flügellänge den örtlichen Gegebenheiten anzupassen, die Mentalität der Potsdamer hatte dafür über ein Jahrtausend Zeit.
Vielleicht hätte es 1945 eine Chance für eine genetische Umstrukturierung gegeben, wäre Potsdam bei der Aufteilung Deutschlands der anderen Seite des Jungfernsees zugeschlagen worden. Wurde es aber nicht.
Und so lauten des Einheimischen Leitworte nach wie vor: Sicherheit, Korrektheit und Ökonomie. Diffuses Herumgelächle hat dazwischen nichts verloren. Aus ökonomischer Sicht verbietet es sich sogar, weil es 43 Muskeln beansprucht. Ein mürrisches Gesicht dagegen 54, was die Gesichtsmotorik viel nachhaltiger trainiert. Von der energetischen Seite her betrachtet verliert das Lächeln ebenso, nämlich gegen den völligen Verzicht auf Mimik bei erschlafftem Unterkiefer. Was heute in Lachseminaren doziert wird, hat der Potsdamer schon vor Jahrhunderten herausgefunden, durchgerechnet und seinem Eigensinn – oder sollte man Gruppensinn sagen angepasst.
Und dann: allein das Wort – lächeln!
Seine Etymologie ist eigentlich nur folgendermaßen erklärbar:
In grauer Vorzeit lallte ein Bayer auf dem Heimweg vom Oktoberfest einem Saufkumpanen einen Satz zu (alternativ auch ein Pfälzer nach einer gründlichen Weinverkostung), der sich jedoch aus naheliegenden Gründen nicht mehr so recht ergab. Fortan bezeichnete das Satzrudiment jedoch den entrückten Gesichtsausdruck Betrunkener und ein Wort war geboren. Nicht hier, das möchte ich noch einmal betonen. Irgendwo im Süden.
Aber von den Nebenwirkungen der Globalisierung konnte auch ein König Friedrich Wilhelm I. schon sein grantiges Lied singen. Es ging ungefähr so: „Was nützt mir die solideste Stadtmauer, wenn sie Tore hat, durch die jeder besoffene Bayer, Pfälzer, Franzose oder Russe einreisen darf, um hier sein verbales und mimisches Unwesen zu treiben?“
(Das ist eine moderne Fassung, die ursprüngliche war kurzsilbiger.)
Es spricht allerdings für die kulturelle Unbestechlichkeit seiner Untertanen, dass sie zweifelhafte Gastgeschenke wie das Lächeln routiniert entgegennahmen und zwischen Aktendeckeln ablegten, ohne je in Versuchung zu geraten, sie anzuwenden.
Und so ergossen sich Prominente Besucher der Vergangenheit zwar über ihre ästhetischen Eindrücke der Stadt, zählten unermüdlich Bauwerke, Könige und Entwässerungsgräben auf und hoben – je nach Entstehungszeit der Texte – Potsdams Charakter als Garnison-, Beamten- oder nachgeordneter Residenzstadt hervor. Über die Mentalität ihrer Bewohner hingegen schwiegen sie sich zumeist aus, oder fassten sie als „Geist von Potsdam“ zusammen. Und dieser Geist lächelte nicht! Er zeigte sich maximal tolerant gegen Ortsfremde, da die Toleranz per Edikt verhängt – und in einer Garnisonstadt ohnehin jeder Zweite ortsfremd war. Und dieser Hälfte der Einwohnerschaft verging das Lächeln spätestens unter dem Drill ebenso. Das klingt trübe, man kann es aber auch als effektive Frühform der Inklusion werten.
Schöngeister wie Heinrich Heine, Theodor Storm oder die Schauspielerin Caroline Bauer (Rollenfach „muntere Liebhaberin!) litten darunter. Letztere schrieb 1828 in einem Brief: „In Potsdam wäre ich sicher dem schwärzesten Trübsinn verfallen.“ Sie hielt sich entsprechend kurz in Potsdam auf. Wäre sie länger geblieben, hätte sie die Vorzüge einer klaren Mimik vielleicht zu schätzen gelernt.
Es ist ja nicht so, dass die Brandenburger und an ihrer Spitze die Potsdamer ein unfreundliches Volk wären. Sie sind nur ehrlich: Gaukle niemandem etwas vor, was du nachher nicht halten kannst. Und vorsichtig: Lächle dir niemanden an, der dir später in der Nacht heimlich die Börse leert oder mit der Tochter des Hauses durchbrennt.
In Potsdam hat die Evolution eben andere Strategien konstituiert als anderswo.
Bewohner südlicherer Landstriche bauen vermutlich darauf, dass Freundlichkeit wiederum Freundlichkeit erzeugt und jemand, den man einmal angelächelt hat, es später nicht über sich bringt, einem übel mitzuspielen. Eine Erwartung, die sich in den meisten Fällen erfüllen mag. Aber eben nicht immer, wie die Erfolgsgeschichte des Berufsstandes der Heiratsschwindler hinlänglich beweist.
Jenen Ausnahmen begegnet der ökonomische Potsdamer, indem er solcherlei potentielle Gefahrenquellen gar nicht erst an sich heranlässt. Er hat den Punkt erfunden, nicht das Komma, das – Zufall oder nicht – auch wieder Ähnlichkeit mit einem hochkant gestellten Lächeln zeigt.
Dennoch ist er nicht aus Stein. Man muss ihn nur zu nehmen wissen; meint: stoisch die Klippen seiner geschlossenen Kieferknochen umschiffen, Sympathie für gleichförmige und etwas nölige Sprachmelodien entwickeln und die richtigen Knöpfe drücken. Als Tipp für Auswärtige: Der kürzeste Weg ins Herz eines Potsdamers führt nicht über ein Lächeln, sondern über die Entdeckung eines gemeinsamen Feindes. Dieser Entdeckung wird unweigerlich ein Bündnis folgen und dann bedarf es nur noch geringer Schürfarbeit, bis die märkische Scholle Risse bekommt und eine treue Seele freigibt. Der Potsdamer bietet sich nicht an, er will erobert werden, um mit seinem Bezwinger hernach die letzte Kartoffel zu teilen. (Zumindest wird er danach so höflich sein, seine letzte Kartoffel nicht vor ihm zu essen.)
Und das alles – diese über Jahrhunderte gepflegte Kultur der schroffen Umgangsformen – sollte einer jungen Spaziergängerin zufolge plötzlich und von mir unbemerkt aufgeweicht, ja ins Gegenteil verkehrt worden sein?
Je näher ich dem Parkausgang kam, desto stärker fraßen Zweifel und eine keimende Angst vor Identitätsverlust an meinem Gemüt. Schon begann ich mich in meiner eigenen Stadt fremd zu fühlen, ein einsam zurückgebliebener Eingeborener. Dagegen half nur Klarheit durch einen Feldversuch.
Statt nach Hause fuhr ich also durch die Brandenburger Vorstadt in Richtung Zentrum, wobei ich aufmerksam die Gesichter der Entgegenkommenden betrachtete.
Da es noch immer leicht nieselte, war die Menge überschaubar. Ein junger Mann, der mir feixend auswich, ein Stadtteil- Original, das nebenberuflich als Guru arbeitet und sowieso ständig lächelt und dem vorsichtshalber ich auswich, eine Familie, die ich lose aus dem Kindergarten meines Nachwuchses kannte. Die Eltern grüßten mich freundlich, worauf ich sie, wie auch den Guru von meiner Probandenliste strich. Bekannte zählten nicht.
Obwohl – genügten ein paar längst verblichene Begegnungen am Kindergartentor schon für fröhliche Bekanntschaftszeugnisse? Ich konnte mich nicht erinnern, mir mit der besagten Familie einen Feind zu teilen. Dafür erinnerte ich mich, dass beim Abholen der Kinder damals insgesamt ziemlich viel gelächelt worden war, einige Eltern hatten mich sogar angesprochen, und zwar auf diese heiter-unverbindliche Art der Südländer. Und zu meinem Schrecken fiel mir ein, dass ich ebenso heiter-unverbindlich geantwortet und Gegenfragen gestellt hatte, ohne mir darüber Gedanken zu machen, dass ich vielleicht gerade meine Kultur verriet!
Nach einigem Grübeln kam mir zumindest eine Erklärung für den ersten Teil des Problems. Die Kindergarteneltern lächelten deshalb so inflationär, weil sie keine Potsdamer waren. Eine der Begleiterscheinungen der Sanierung der Brandenburger Vorstadt war bekanntlich ein nahezu kompletter Anwohnerwechsel. Die alten Vorstädter starben oder flohen vor den explodierenden Mieten und wurden durch Zuzügler aus aller Herren Bundesländer ersetzt. Und der kümmerliche Restbestand, zu dem ich zähle, assimilierte sich notgedrungen. Himmel – waren wir etwa weichgentrifiziert? Ich straffte mich und trat in die Pedale. Noch gab ich nicht auf. War die Brandenburger Vorstadt auch so gut wie verloren– es gab andere Viertel. Die Berliner und die Nauener Vorstadt beispielsweise. Nein, die fielen aus, dort war es noch schlimmer. Der Stern. Babelsberg. Ich hätte nie gedacht, dass ich als Potsdam Westler Babelsberg einmal zu Potsdam zählen würde – und zu Recht, stellte ich fest, als ich in der Karl Liebknecht Straße auf einen Obdachlosen stieß, der mir die Motz anbot und mich, als ich sie ablehnte, lächelnd auf meine, nur noch an einer Halterung schlackernde Satteltasche aufmerksam machte. Ich befestigte sie und kehrte sofort wieder um. Was war nur aus Potsdam geworden, wenn selbst die Stadtstreicher lächelten!
Der Wahrheit halber gebe ich zu, dass ich auf der Humboldtbrücke und am Holzmarkt einigen ernsten und sogar einem ziemlich missmutig dreinblickenden Menschen begegnete. Inzwischen war ich jedoch so zermürbt, dass ich mich bei dem Gedanken ertappte, diesen Leuten eine Potsdamer Herkunft abzusprechen. Vielleicht kamen sie aus Templin oder Prenzlau.
Die Kassiererin, die einige Zeit später in einem innenstädtischen Supermarkt meine EC- Karte in das Kartenlesegerät steckte, mochte hingegen meinetwegen aus Potsdam stammen, war aber augenscheinlich Opfer einer umsatzfördernden Gehirnwäsche durch die Geschäftsleitung geworden.
„Konnten wir Ihre Wünsche erfüllen?“, fragte sie strahlend.
„Fast.“
„Oh.“ Sie zog einen Block von einer Ablage neben der Kasse.
„Was fehlt Ihnen denn in unserem Sortiment?“
Eine Urne für die Potsdamer Muffligkeit - lag mir auf der Zunge.
„Buchweizenschrot.“
Sie schrieb es auf.
Wahrscheinlich wirft sie den Zettel weg, sobald ich mich umdrehe, dachte ich grimmig, und nach Feierabend massiert sie ihre schmerzenden Mundwinkel und zieht mit ihren Kollegen über Kunden wie mich her. Was mich sogar getröstet hätte, wenn es nicht nur eine Vorstellung gewesen wäre. Deprimiert verließ ich die Filiale und schlurfte um die Ecke zum Bäcker.
Es ist die älteste Bäckerei von Potsdam und die Verkäuferinnen kenne ich seit meiner Jugend. Wenn es noch eine lächelfreie Zone gab, dann dort. Wenn nicht, würde ich der jungen Frau aus dem Park meine Dame zu Füßen legen und das Spiel für verloren erklären.
Etwas bang trat ich ein, zählte die Teilnehmer der Schlangen vor den beiden Verkaufstheken und entschied mich für die linke. Beim Warten beobachtete ich unauffällig die Kunden, vor allem aber die beiden Angestellten, die geschäftig zwischen Backwaren und der Kasse herumwirbelten. Da ich von ihren Gesichtern noch wenig sehen konnte, analysierte ich ihre Körpersprache. Und endlich, endlich begann ich mich ein wenig zu entspannen. Die Bewegungen der Frauen waren widerwillig routiniert, so wie ich es von den Verkäuferinnen meiner Kindheit kannte. Obgleich der Laden nur mäßig voll war und die Kundschaft geduldig die Waren studierte oder unbestimmt in die Runde lächelte, strahlten die Verkäuferinnen eine leichte Gereiztheit aus, beinahe einen latenten Vorwurf. Es gefällt euch, mir dabei zuzusehen, wie ich für euch herumspringe, wie? – übersetzte ich still. Fühlt euch wohl als was Besseres, nur weil ihr Abi oder einen reichen Mann oder einen dieser schicken Berufe habt, die aus irgendwelchen Fördertöpfen bezahlt werden, die ich mit meinen Steuern fülle. Dabei könnt ihr nicht mal einen Liebesknochen ordentlich bestellen. So heißen die hier nämlich, und wer Eclair sagt, dem packe ich noch eine meiner Krampfadern drauf, unter denen ich euretwegen seit Jahren leide.
„Was soll‘s sein?“
Ich schrak auf und blickte in ein unbewegtes Gesicht unter grauen Ponyfransen. Nicht der Hauch eines Lächelns. HALLELUJA!
„Sechs Brötchen und einen Mohnzopf bitte.“
Neben mir orderte eine Kundin Sandgebäck und zwei Eclairs bei der Kollegin.
„Und einen Liebesknochen“, fügte ich hinzu.
Meine Verkäuferin hielt in der Bewegung inne. Kräuselte sich da was in ihren Mundwinkeln?
„So soll‘s sein“, sagte sie und wandte sich endlich dem Brötchenkorb zu. Ich hatte den Eindruck, dass sie den Liebesknochen besonders sorgfältig einpackte.
„Noch was? Schlagen Sie lieber zu, bevor die Tourismusabgabe kommt.“
„Ach“, machte ich. „Ich dachte, die wäre inzwischen von der Bettensteuer abgelöst?“ Sie verzog den Mund. „Die wird im besten Falle vorgezogen, junge Frau. Der Stadt fällt immer was ein, wofür sie Geld braucht. Heute die Stiftung, morgen ne Umgehungsstraße, übermorgen ne Kirche. Am Ende bluten immer die Kleinen.“
„Wem sagen Sie das. Unsere Wohnung wird gerade modernisiert. Geben Sie mir vier Stück Bienenstich!“
Als ich sie erhielt, wusste ich, dass ich eine Verbündete hatte. Ich war wieder zu Hause.
„Halten Sie die Ohren steif“, sagte sie, als sie mir das Wechselgeld herausgab. Und dann grinste sie. Es machte mir nichts aus. Nicht einmal, dass sie den nächsten Kunden freundlicher begrüßte als mich.
Beschwingt fuhr ich heimwärts. Es gab sie noch, die echten Potsdamer! Wenige, ein stetig schrumpfendes Völkchen, das man unter Artenschutz stellen sollte, aber noch gab es sie.
Unterwegs lächelten mich einige Leute an, die ich nicht kannte. Vermutlich Zugezogene. Ich vergab ihnen. Es gibt durchaus Schlimmeres, als von Fremden angelächelt zu werden. Eigentlich fühlte es sich sogar ganz gut an und war noch dazu völlig unverbindlich. Außerdem hatte der Regen aufgehört und die Sonne flutete durch die Straßen. Vor unserem Haus traf ich auf eine Freundin mit ihrem Kinderwagen. Auch zugezogen, aber nur aus Wilhelmshorst. Wenn wir uns treffen, plaudern wir immer ein bisschen.
„Sag mal, hast du gerade einen Vertrag unterschrieben?“, fragte sie zur Begrüßung.
„Wie kommst du denn darauf?“
„Na, so wie du grinst!“
Ich stutzte. Fuhr mir mit der Hand ins Gesicht, tastete es besorgt ab. Und plötzlich begriff ich: Die Spaziergängerin im Park hatte recht. Und gleichzeitig saß sie einem gewaltigen Irrtum auf, ebenso wie die Leute, die mir auf dem Rückweg zugelächelt hatten. Oder sollte ich sagen: zuRÜCKgelächelt?
„Nein, kein Vertrag“, erwiderte ich. „Mich blendet nur die Sonne.“
„Ach so.“
Am Abend desselben Tages kam mir aus unerfindlichen Gründen die amerikanische Studie mit den Schwalben und ihre innerhalb von zwei Generationen variierende Flügellänge in den Sinn. Erstaunlich. Dann fiel mir ein, dass die Wende mittlerweile auch bald zwei Generationen zurückliegt.
Das ist keine Prognose, nur eine Feststellung.
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