zum Hauptinhalt

Kultur: Prickelnd und pompös

Europafest im Nikolaisaal: Jane Birkin, die Kammerakademie Potsdam und der Dresdner Kammerchor

Stand:

Europafest im Nikolaisaal: Jane Birkin, die Kammerakademie Potsdam und der Dresdner Kammerchor Der Abend wirkt wie eine gute Flasche Champagner: spritzig, prickelnd, betörend. Den ersten Schluck muss man langsam auf der Zunge zergehen lassen, um sich an ihn zu gewöhnen. Dann aber entfaltet er seine blumige Fülle und versetzt in einen leichten, beschwingten Rausch. Die französischste aller Engländerinnen, Jane Birkin, lässt zum Auftakt des Europafestes am Freitag im Nikolaisaal ihren Charme und ihr Temperament feinsinnig verströmen. Mit dem Zauber der Natürlichkeit umgarnt sie das Publikum, das sie am Ende mit stehendem Applaus feiert. Dabei beginnt der Abend ganz unspektakulär. Die Sängerin erscheint auf der Bühne, als wäre sie zu Hause in ihrem Wohnzimmer: Die Haare locker aufgesteckt, flache Pantoffeln, gemütliche schwarze Hosen, ein legerer schwarzer Pullover, der Bauch und Schultern aufreizend frei gibt. Diese offensichtlich dem Jungbrunnen entstiegene Frau kann sich ihr Teenie-Outfit durchaus leisten, selbst ein Piercing im Bauchnabel hätte man akzeptiert. Als Jane Birkin über die Ausweglosigkeit körperlicher Liebe zu singen beginnt, ist ihre Stimme noch etwas brüchig und süßlich, wie nach einer bereuten Nacht. Doch immer mehr versinkt die mädchenhafte Frau in die Seele der Lieder, die einst ihre große Liebe Serge Gainsbourg für sie schrieb. Und wie von größter Natürlichkeit fallen die französischen Worte plötzlich in einen orientalischen Klangteppich. Wirkt ihre „Elisa“ noch wie ein etwas roher Diamant, bekommen die folgenden Songs sehr schnell den nötigen Schliff, um in warmen Tönen zu funkeln und in der Rai-Musik aufzugehen. Ihr Programm „Arabesque“ entstand vor fünf Jahren, als der Musiker Djamel Benyelles einige Ginsbourg-Titel „orientalisierte“. Aus den Liedern wurde ein Programm, das nunmehr erfolgreich durch die Welt tourt und mit vielen Facetten bis in die Karibik hinüber blinzelt. Die Chansonette weiß ihren Gesang auch immer wieder mit liebenswürdigen Worten ans Publikum aufzulockern. Die Potsdamer nehmen es dankbar auf, auch wenn sie sicher nicht alle die vielen französisch und englisch vorgetragenen Nettigkeiten oder auch den Brief ihres 20-jährig verunglückten Neffen an seine Mutter verstanden haben dürften. Doch Jane Birkins Sprache ist wie eine leise Melodie, die sanft in den Körper strömt, und sich dort wohlig ausbreitet. Lautes Getöse, schrille Aufdringlichkeit sind dieser Frau fremd. Wenn sie dann am Ende des viel zu kurzen Abends doch noch ins lange rote Kleid schlüpft, bleibt sie dennoch das lächelnde Mädchen, das alle in ihr Herz schließt. Barfuß gleitet sie mit dezentem Sexappeal über die Bühne, tanzt zu den sanft wiegenden Rhythmen, drückt und küsst ihre fünf Musiker, die gleich ihr die durchaus nicht zuckersüßen Texte mit dem unschuldigsten Lächeln servieren. Am Ende steht sie allein auf der Bühne, erhebt a capella ihre jetzt klare Stimme: „Das Leben ist es nicht wert gelebt zu werden ohne die Liebe.“ Man spürt, sie singt ihr Leben. Der prickelnde Champagner-Geschmack bleibt noch lange auf der Zunge. Heidi Jäger * * * Europa ist in aller Munde – das „alte Europa“, das neue Europa mit seinen 25 Staaten bestimmen zunehmend die öffentliche Rede. Erfreulicherweise steht Potsdam dabei ganz vorn mit seiner Bewerbung für die „Kulturhauptstadt Europas“ im Jahre 2010. Schon jetzt verlocken viele Veranstaltungen, einmal über die nationalen Grenzen hinauszuschauen und den Horizont in Richtung Europa zu erweitern. Einen feierlichen Auftakt gab es beim Europafest in Potsdams historischer Mitte mit dem Konzert „Europavision“. Im Nikolaisaal, wo sich außer dem Oberbürgermeister Jann Jakobs viele politische Vertreter eingefunden hatten, spielte die Kammerakademie Potsdam ein hochkarätiges besetztes Programm mit Werken von Marc-Antoine Charpentier, Georg Friedrich Händel und Wolfgang Amadeus Mozart. Ein so hymnischer Lobgesang wie das Te Deum von Marc-Antoine Charpentier vermag die Geister in hochmögende Stimmung zu versetzen. Das Lob Gottes und das Lob des Herrschers, Ludwig der XIV, gehen in diesem prunkvollen, polyphonischen Werk für Solisten, Chor und Orchester nahtlos ineinander über. Allein schon der achtunggebietende Trommelwirbel über mehrere Takte zu Beginn, den Friedemann Werzlau aufregend exerzierte, und die als „Eurovisionsmelodie“ berühmt gewordenen Trompetenfanfaren künden von Macht und Ruhm. Der Dresdner Kammerchor und die Kammerakademie Potsdam folgen dem zwingenden Dirigat von Hans-Christof Rademann mit bravourös gesungenen und gespielten Passagen. Auch die „Krönungsmesse“, KV 317, von Wolfgang Amadeus Mozart verströmt viel Pomp, Drama und Effekt, was gelegentlich zu sehr ausgekostet wurde, enthält aber auch überaus lyrische Arien und Chorsätzen. Aus dem Quartett der Solisten strahlte der Sopran von Miriam Meyer mit lichtem Glanz hervor. Ruth Sandhoff, Alt, und Marcus Ullmann, Tenor, fügten sich formidabel in die vielstimmigen Gesangssätze ein. Der Bassbariton Sebastian Noack überzeugte mit standfestem, abgerundetem Stimmklang. Klar, homogen und präzise meisterte der Dresdner Kammerchor auch differenzierteste Passagen, wie in beiden prächtigen Schlusschören. Weihevoll ging es auch in Georg Friedrich Händels Orgelkonzert g-moll op. 4/1 zu, das der junge Organist Tobias Aehlig an der Truhenorgel ordentlich intonierte und das die Kammerakademie Potsdam ätherisch-elegant begleitete. Nach soviel würdevoller Feierlichkeit war man fast dankbar für das Kontrastprogramm danach. In der Wilhelm-Staab-Straße und am Stadtkanal gaukelten und lärmten Schauspieler und Musikanten um die Wette. Rauhe Großstadtklänge bot „Di grine Kuzine“ in einer hippen Mischung aus Balkan-Blech, Klezmer und Latin-Beat. Sängerin und Akkordeonistin Alexandra Dimitroff und ihre vier Jungs an Klarinette, Trompete, Tuba und Schlagzeug erzählten mit Verve von „Berlins grauer Sonne“. Wenn auch Potsdam nicht am Meer liegt, doch einen Strand gab es auf der Stadtkanalbrücke, wo eine Akkordeonistin melancholische Lieder spielte, die von französischer Lebenskunst kündeten. Das Fest in Potsdams historischer Mitte zeigte, dass mehr Europa alle bereichern kann. B. Kaiserkern

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })