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Kultur: Proben für den Umsturz

Abschied: Mutabor im Lindenpark

Stand:

Unglaubliche Szenen in der Stahnsdorfer Straße. Vor dem Lindenpark steht eine Meute „Mutabor“-Fans: johlend, trinkend und frierend. Wodka und Bierflaschen machen die Runde. Ein Kerl schleppt einen ganzen Beck“s-Kasten an, sehr zur Freude seiner Kumpel.

Subversive Sprechchöre werden angestimmt: „MUTABOR, MUTABOR“. Nun gut, vielleicht reicht es damit noch nicht zur politischen Revolution, aber vorsichtshalber wird der Sieg gegen das Spießertum schon einmal vor der eigentlichen Schlacht gefeiert. Ein Streifenwagen fährt vorbei und man kann sich vorstellen, wie die Polizisten im Auto ungläubig den Kopf schütteln. Um den völligen Austausch des Blutes durch Alkohol zu verhindern, erbarmen sich die Türsteher dann auch endlich und gewähren Einlass in den Lindenpark. Nach einer Stunde Beschallung mit lateinamerikanischem Ska-Rock aus der Konserve betreten die „Ohrbooten“ die Bühne. Die hatten vor zwei Wochen im Waschhaus schon einmal den Schweiß von der Decke tropfen lassen, bewegen sich also auf sicherem, party-erprobtem Terrain. Nach Potsdam kommen sie an diesem Abend leider nur in einer „light“-Version mit weniger Mitgliedern.

Aber was heißt hier „nur“ und was „leider“? Saitenzupfer Matze und „Berliner Schnauze“ Ben reichen völlig aus, um das unter Hochdruck stehende Publikum in erste Ovationen zu schunkeln. Aufgelockert durch Beatbox-Einlagen oder ein Nasenpfeifen-Solo fahren sie den Stimmungssieg sicher nach Hause. Am Ende wenden sie sich noch charmant an alle Ladies: „Jetzt ma'' ehrlich: Ohne Frauen wär'' dit Leben so spärlich und halb so jefährlich.“ Schleimer!

Mutabor haben beim vorgewärmten Publikum keinerlei Mühe, das völlige Durchschwitzen der Kleidung zu provozieren. Sänger Steinhagen hüpft in gewohnter Derwisch-Manier über die Bretter und platziert seine witzig-durchdachten Texte auf das Ska-Rock-Bett.

Zu seiner Linken pustet sich Diana Schmidtz durch ihr Sammelsurium an Blasinstrumenten (Klarinette, Saxophon, Flöten) und auf der anderen Seite bearbeitet Helen Bauerfeind ihre Geige nach allen Regeln der Teufelsgeiger-Kunst. Lauer und Cölln an Bass und Gitarre und Jacobs hinter dem Schlagzeug komplettieren das Sextett. Erweitert wird die Konstellation immer wieder durch Stagediver, die auf die Bühne kraxeln, um zum Abflug in die Menge zu starten.

„Politisch provozierend“ bezeichnen sie selbst ihre Texte. Aber wenn überhaupt, dann schmunzeln Politiker wohl eher, wenn Steinhagen bei „Revolutio“ durch die Reime stolpert: „Parteien bilden, Vorteile klagen / Zähne zeigen und rein schlagen / Hochentwickelte Superwaffen / Und dahinter immer noch die gleichen Affen."

So ist es dann doch eher eine erste Probe für den Umsturz, bei dem sich die Akteure weder über Ziel noch Verfahrensweise im Klaren sind. Schon aus diesem Grund ist es eigentlich nicht zu verantworten, sich einfach aufzulösen, bevor die beschworene „Punk-Revolution“ in Schwung gebracht wurde. Ihr Abschiedskonzert soll es sein. Aber Potsdam will sich nicht verabschieden. Zugabe um Zugabe wird eingefordert. Mit „So weit ist das Meer“ versucht die Band ihren Abgang zu rechtfertigen: „Wer loslassen kann, kommt irgendwann an“ heißt es dort. Losgelassen wird aber erst nachdem bei „Liebe“ die Gesangsqualitäten der Potsdamer Fans getestet und als „umwerfend“ befunden werden.

Die völlige Verausgabung bringt dann der Kult-Kracher „Lump“, der das Publikum irgendwo zwischen erschöpfter Ekstase und völliger Glückseligkeit zurücklässt. Christoph Henkel

Christoph Henkel

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