
© Andreas Klaer
Von Almut Andreae: Reise zu sich selbst
Ich-Findung aus 24 Perspektiven: Ausstellung „Ich Wicht“ im Kunstraum erschafft Erlebnisräume
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Kurz, bevor er zu platzen droht, geht der frisch aufgeblasene pralle Luftballon mit Karacho ab in den Raum. Ein kurzer Knopfdruck genügt, und schon begibt sich der nächste Luftballon in Startposition. Nur wenige Momente später saust er einem, wie all seine Vorgänger, übermütig um die Ohren und lässt laut hörbar all seine Luft wieder heraus. Am Ende ist der Fußboden des Kunstraums rund um die von Oliver van den Berg kreierte „Ballonorgel“ mit den erschlafften Überbleibseln der mausgrauen Luftballonpracht übersät. Nicht nur für Kinder ist die bei ihrer Arbeit ins Ächzen kommende Ballonaufblasmaschine ein Vergnügen, dem man sich schwerlich entziehen kann. Van den Berg, der als Künstler in Berlin lebt, hat seinen Kindheitstraum einer solchen Ballonmaschine nicht ad acta gelegt. Und deshalb eines Tages eine solche erdacht.
Das mit den Ballons zieht in der multimedialen Ausstellung „Ich Wicht“ des Kunstraums Potsdams noch weitere Kreise. Grau statt ballonbunt sind auch die Ballons von Albrecht Schäfer. Geformt aus Gips haben sie es bis unter die hohe Decke des Ausstellungsraums rund um die Wendeltreppe gebracht. Die eigentliche Schwere ihrer Materialität tritt hinter dem konstruierten Schwebezustand zurück. Wie in seinem gleichfalls auf den konkreten Raum bezogenen Readymade „Wohnzimmerlampe“ inszeniert Schäfer Möglichkeiten der Wahrnehmung. Seine Installationen im Raum spielen mit Illusion und unterwandern dabei das Bewusstsein dafür, wie etwas wirklich ist.
Um Vergleichbares geht es auch in dem 1903 entstandenen Stummfilmstreifen „Alice in Wonderland“. In der Ausstellung flackern die Bilder der sich abwechselnd zur Riesin und zur Zwergin wandelnden Heldin aus Lewis Carrolls Roman über den Monitor eines Fernsehers am Boden. Die ständigen Perspektivwechsel, die Fokussierung des Blicks auf etwas, das ganz unten ist oder ganz oben, ganz groß oder winzig klein verleihen dem Ausstellungsgeschehen eine ganz eigene Dynamik. Kuratorin Catherine Nichols sorgt durch die einfallsreich zusammengestellten künstlerischen Positionen für ständig wechselnde Eindrücke. Bei alldem steht die Frage danach, wie wir sehen, aber auch wie wir uns selber sehen, neu zur Disposition. Ausgehend von der Grundidee, etwas über Kindheit und Kindsein zu machen, weitete sich im Zuge der Konzeptentwicklung der Blick der Kuratorin auf das Thema. Nicht das Kind im engeren Sinne steht im Mittelpunkt der 24 gezeigten Standpunkte von Künstlern aus Deutschland und aller Welt. Weder Klischees noch allzu Vordergründiges erhalten hier eine Chance. Als eigentliche Botschaft dieser „Ich Wicht“ genannten Mega-Ausstellung schält sich heraus, dass es müßig ist, Kindheit als etwas zu begreifen, das es im Sinne etwas von Aristoteles zu überwinden gilt, um zum fertigen Menschen zu werden. Catherine Nichols zeigt durch die Fülle der ausgewählten Arbeiten auf, dass sich der Prozess der Menschwerdung eingedenk der Koexistenz einerseits des Kindlichen und andererseits des Erwachsenen in uns vollzieht.
Ausstellungsbeiträge wie die „Short Cuts“ von Axel Lieber, der zwergenhafte Stühle aus Möbelfragmenten schuf, oder die am Boden installierte Raumarbeit von Daniela Baldelli zum Thema Teilen, eigens für den Ort entwickelt, lenken die Aufmerksamkeit auf Augenhöhe des Kindes. Zur Beweglichkeit des Sehens und Denkens führt auch das in den hinteren Ausstellungsraum eingezogene Baugerüst. Oberhalb einer geräumigen Filmkabine, in der in einer 2-Kanal-DVD-Projektion der britische Künstler Kerry Tribe seiner Tochter erstaunliche Antworten um Fragen rund um die menschliche Existenz und Vorstellungskraft entlockt, ist hier eine Art Plattform entstanden. Neue Blickwinkel, Erlebnisräume generiert nicht nur diese Ausstellungsarchitektur, sondern jeder einzelne Beitrag, indem er die Wahrnehmung des Betrachters zur Eigenaktivität herausfordert. Das fängt an mit der eingangs platzierten „Ich Wicht“-Apparatur von Andreas Fischer, der die Gesamtschau ihren Namen verdankt, und setzt sich fort bis zur Einladung der Künstlerin Silke Eva Kästner an den Besucher, dem großflächig ausliegenden Farbfächer ihrer Arbeit „cusec“ neue Facetten zu entlocken.
Aus der Lust am Spiel, daran, sich als Ausstellungsbetrachter eigener Kindheitswünsche zu erinnern oder sich auf die der Künstler einzulassen, erwächst im Dialog zwischen Kunst und Publikum eine Art Komplizenschaft. Ob es dabei so grell und übermütig zugeht wie in dem Film „Tausendschönchen“ der Tschechin Vÿra Chytilová oder magische Momente angesprochen werden wie in dem Film von Mark Wallinger, ob bunt oder schwarz-weiß, reduziert oder verspielt: um Erinnerungsmuster und Kindheitsspuren aufzuspüren, sind in der vielseitigen Ausstellung reichlich Fährten gelegt. Immer wieder führen sie zur Begegnung mit dem eigenen Ich. Das Kreisen um sich selbst wird in der diskret daherkommenden Videoarbeit „Flying Slowly“ von Moritz Wiedemann zum Looping: zum Selbstporträt auf einer Reise zu sich selbst.
„Ich Wicht“ ist noch bis zum 14. November, mittwochs bis sonntags, 12 bis 18 Uhr, im Kunstraum, Schiffbauergasse, zu sehen
Almut Andreae
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