zum Hauptinhalt

Potsdam nach der Wende: Revolution im Vakuum

André Kubiczek stellt seinen Nachwende-Roman „Das fabelhafte Jahr der Anarchie“ in Potsdam vor.

Stand:

Es ist ein Vakuum entstanden mit dem Fall der Mauer. Nicht nur ein Machtvakuum, was sich besonders in der Untätigkeit der staatlichen Organe zeigt, sondern auch ein Identitätsvakuum. Das bekommen besonders die jungen Leute zu spüren, um die es in André Kubiczeks Roman „Das fabelhafte Jahr der Anarchie“ geht. Es ist die Entwurzelung, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte zieht – eine Geschichte, die den Außenseitern, denjenigen mit der größten Aufbruchsstimmung, eine Stimme gibt. Am Montag stellt André Kubiczek seinen Roman, der in Potsdam seinen Anfang nimmt, im Literaturladen von Carsten Wist vor.

Im Frühjahr des Jahres 1990 sitzen dessen Hauptfiguren, Andreas, dessen Freundin Ulrike und deren Bruder Arnd, in dem Verfall, aber auch der Neuerfindung preisgegebenen Potsdam. Das Café Heider, heute eher ein Anziehungspunkt für Touristen, die auf der Suche nach legendären Orten die heutige Innenstadt durchstreifen, ist ihr Dreh- und Angelpunkt, und natürlich die Hausbesetzerszene in der Dortu- und der Gutenbergstraße, die sich den Raum genommen hatte, den niemand wollte, von dem in dieser Umbruchszeit niemand überhaupt wusste, wem er eigentlich gehört. Arnd ist erst im Februar aus der Nationalen Volksarmee entlassen worden, seine Kompanie war kurz vor der Wende in den Braunkohletagebau rund um Welzow eingefahren.

Während Arnd zunächst in einer Hochparterre-Wohnung in einem baufälligen Gründerzeithaus nahe dem Park Sanssouci haust, die er kurzerhand besetzt hat, wohnt Andreas im Prenzlauer Berg und versucht sich lustlos an einem Lehramtsstudium in Deutsch und Geschichte. Lieber lässt er sich treiben im zähen Strudel des Umbruchs: „Aber was hieß schon irgendwann? Die Zukunft und ihre Pläne waren in diesen Tagen weiter entfernt als das Pleistozän. Zum ersten Mal war die Gegenwart wichtiger.“

Bevor sich Andreas, Ulrike und Arnd von diesem Vakuum lähmen lassen, suchen sie das Weite: Vor einem Potsdamer Neubaublock parkt ein Lastwagen, der sogenannte Ello, ein Robur LO, der vollgeladen wird mit den Habseligkeiten. Ulrike und Arnd haben den Hof ihres Großvaters geerbt, in Neu Buckow, einem fiktiven Dorf in der Niederlausitzer Tagebaulandschaft, zwischen Cottbus und Senftenberg – eine Gegend, die gerade dabei ist, sich selbst aufzugeben. Das alte Bauernhaus soll renoviert werden. Ein Ort, der nun als Nährboden für die optimistischen Ideale dieser gesellschaftlichen Abkapselung herhalten soll.

Andreas und Ulrike nehmen sich aus tiefromantischer Überzeugung vor, ihr zweisames Glück zu genießen, ein immerwährender Zustand der Seligkeit, den sie an den Aufbau des Hauses koppeln: Sie kaufen sich Hühner, basteln am Haus und reden permanent über Liebe. Unterdessen bringt Arnd die Botschaften aus der Stadt mit, in der er noch arbeitet – Botschaften voller Zorn, von der Auflösung der DDR und dem gleichzeitigen Siegeszug des Kapitalismus.

Aber der hält auch auf dem Land Einzug, wenn auch verlangsamt und subtiler: Die Leute trinken jetzt zu Hause und nicht mehr im Dorfkrug, und Frau Domaschkes kleiner Laden wird auch weniger besucht, weil der neue Supermarkt in Senftenberg ein größeres Sortiment bereithält. Es ist auch ein bisschen das Ende der Idylle, die Arnd mitbringt. Und dann, gerade als Arnd zu Besuch ist, steht plötzlich die neu eröffnete Bankfiliale in Flammen.

Kubiczek hat ein Auge für die kleinen Details, ohne den Roman mit schrillen Erinnerungsfetzen zu überfrachten. Er beschreibt die Schrottkolonnen aus Westautos der späten 70er und frühen 80er, die sich nun durch die Straßen quälen, in Senfgelb oder der Farbe von Brokkolisuppe. Die wahr gewordene Träumerei der Ostdeutschen nach einem Auto ohne Wartezeit, die doch nur eine Verschanzung in einer Blechkiste ist.

Es dominiert der Opportunismus: Selbst die politische Opposition wird unterwandert, während das Volk sich von Sondersendungen des rebellisch gewordenen Staatsfernsehens einlullen lässt – Polit-Bungalows in Wandlitz etwa, die mit geschmackloser Dekadenz vollgestopft waren. Währenddessen schlendern die Helden der Geschichte über den Boulevard der Brandenburger Straße, die mit Tapeziertischen gesäumt ist, auf denen „funkelnder Unsinn aus Plastik und Blech“ oder Pornomagazine verkauft werden, flankiert von selbst ernannten Politaktivisten, die für Denkmalschutz oder Pazifismus werben.

André Kubiczek hat mit „Das fabelhafte Jahr der Anarchie“ (Rowohlt Verlag, 19,95 Euro) sein sechstes Buch geschrieben – nicht das erste, das den Osten der Republik thematisiert, aber das erste, das eine Aufarbeitung der Epoche des Umbruchs ist. Und natürlich hat dieser Roman autobiografische Elemente, wie Kubiczek zugibt: Die Figuren seien aus Freunden und aus sich selbst zusammengesetzt, und gerade die Potsdamer Episoden sind autobiografisch gefärbt, sagt der gebürtige Babelsberger. Nur er selbst habe Potsdam nicht verlassen zu dieser Zeit – höchstens den Sommer über. Aber er kenne die Lausitz aus seiner NVA-Zeit, arbeitete da im Tagebau: „Das war ziemlich cool damals.“ Irgendwie hat es ihm die Lausitz angetan, diese so herb zweigeteilte Landschaft, die sich in Kohleförderung und wunderschöne Heidelandschaften spaltet. „Ich wollte bewusst eine Freundschafts- und Liebesgeschichte schreiben“, so Kubiczek. Und da sei die politische Komponente nicht deplatziert: „Das sind alles Leute, die eine Haltung haben.“

Das ist das Gute an Kubiczeks Roman: Hier wird nicht mit wehmütigem Blick zurückgeschaut in die Geschichte, sondern der Zeitgeist einer Generation eingefangen, die sich und ihre Ideale neu erfinden musste – und das Vakuum schließlich mit Leben füllte.

André Kubiczek liest am Montag, 19 Uhr, im Literaturladen Wist, Brandenburger/Ecke Dortustraße. Der Eintritt kostet 5 Euro.

Oliver Dietrich

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })