Kultur: Rieu auf Ecstasy
Europafest in Potsdams historischer Mitte bescherte unter anderen Sophie Solomon und ihre Band
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Das Rot und Gelb, mit dem die barocken Häuser der Wilhelm-Staab-Straße zum Europafest angestrahlt wurden, hob sich imposant vom Tiefschwarz des Abendhimmels ab. Über dem Stadtanal hing eine drohende Gewitterwolke, als ob sie gleich das trocken-modrige Kanalbecken füllen wollte.
Das Wetter dramatisierte das traditionelle Straßenfest zur Saisoneröffnung des Nikolaisaals zusätzlich. Zuvor hatte der Regen schon die vielen Klappgarten- stühle benässt, die auf dem gesamten Straßenabschnitt aufgestellt waren. Ein rüstiges Ehepaar aus Berlin nahm dennoch Platz. Immer schon wollte es sich das wieder zum Vorschein gebrachte Kanalstück ansehen. Nun wartete man auf Sophie Solomon und ihre Band aus London. Die englische Geigerin soll Konzertmeisterin im London Symphony Orchestra sein.
Die überdachte Bühne hat einen eher ungünstigen Platz. Sie steht längs der Wihelm-Staab-Straße auf dem Bürgersteig.
Die Menge, die sich in Erwartung bereits direkt auf der Straße vor ihr aufgebaut hat, behindert das Durchkommen derjenigen, die sich auch das 3-D-Kino weiter unten ansehen wollen. Oder das, was vom mittlerweile aufgeweichten feinen Ostseesand übrig geblieben ist, der eigens aufgeschüttet wurde, um Strandatmosphäre aufkommen zu lassen. Jung und Alt tragen selbstleuchtende grüne Neonstäbe im Haar und an der Mütze. Aus Richtung Neuer Markt treffen Eltern mit Kind vom zuende gegangenen Lichterfest ein. So ist der Platz bald rammelvoll.
Dann treten Sophie Solomon und ihre fünf Begleiter auf. Solomon spielt sehr enthemmt auf ihrer Violine, ihr Oberkörper kreiselt und wiegt hin und her, etwa wie André Rieu auf Ecstasy. Eine wahre Zaubergeigerin. Zunächst klingt ihr Instrument aber etwas schräg. Die strengen Gepäckbestimmungen am Flughafen wären ja bekannt, beichtet Solomon. Ihre eigene Geige habe es da nicht geschafft. Diese Hochgeschwindigkeitsfolklore geht direkt in die vielen Füße auf dem Kopfsteinpflaster über. Ein Stück habe sie von ungarischen Zigeunern auf einem alten ukrainischen Schlachtschiff auf der Donau gelernt. Dann regnet es kurz, Regenschirme klappen auf, und man sieht nichts mehr. In der kurzen Pause bildet sich auf einmal eine Gasse. Zwei Stelzenkünstler laufen in weißen Kostümen wild gestikulierend auf und ab. Eine gewisse Eleganz ist ihren Bewegungen nicht abzusprechen, immerhin tragen sie lange Hölzer an den Beinen.
Offenbar hat Sophie Solomon ein etwas begrenztes Repertoire. Sie spielt im zweiten Teil einfach noch einmal dieselben Stücke.
Dann ist das Festkonzert der Kammerakademie drinnen im Nikolaisaal beendet. Die Konzertbesucher, die gerade Mozart und Schubert hörten, bahnen sich den Weg durch die Menge. Ihre vom Musikgenuss noch vergeistigten Blicke sagen, sie würden jetzt lieber nicht durch eine feiernde Menschenmasse stolpern.
Nun geht es Schlag auf Schlag. Die Band hat gerade aufgehört, da zündet die Lufttänzerin Nadia Meinhardt eine Magnesiumfackel und blendet damit alle Umstehenden. In Begleitung der Stelzenkünstler, die ebenfalls brennende Gegenstände herumwedeln, erklimmt sie ein Seil, das in Schulterhöhe über dem Trottoir gespannt ist. Die Menge hat sich zur besseren Sicht auf Klappstühle und Tische gestellt. Alles staunt, Jahrmarktsatmosphäre. Auf der Bühne hat nun der schrullige Bretone Pascal Lamour begonnen, seine Musik uralten, keltischen Ursprungs zu spielen. Das klingt wie Rap und Sprechgesang, zu einem Getöse, das drei Trommler entfachen.
3000 Kerzen, aufgestellt auf Gesimsen, Tischen und Brücken sowie im Kanal. Ein buntes, abwechslungsreiches Programm, und alles ohne Eintritt. Hunderte Gesichter. Und überall strahlte es.
Matthias Hassenpflug
Matthias Hassenpflug
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