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Kultur: Romantik mit dem Küchenmesser Gemma Ray & Band spielten im Nikolaisaal
Das Erste, das man von Gemma Ray sieht, ist ihre mächtige Gitarre, viel zu groß, meint man, an dieser zerbrechlich wirkenden Frau. Als Zweites nimmt man ihre langen Beine wahr.
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Das Erste, das man von Gemma Ray sieht, ist ihre mächtige Gitarre, viel zu groß, meint man, an dieser zerbrechlich wirkenden Frau. Als Zweites nimmt man ihre langen Beine wahr. Zu ihrem Retro-Minikleid – Dreiviertel-Ärmel, Stehkragen, Blümchendruck mit hoch angesetzter Taille – trägt sie hellbraune, hautenge Cowboy-Boots. Bücken, das ahnt man, ist unmöglich in diesem Outfit, das mit perfektem 60er-Jahre-Make-Up und brav-lasziver Hochsteckfrisur ergänzt wird. Doch Gemma Ray veranstaltet im Nikolaisaal keine Modenschau. Die britische Sängerin ist mit ihrer Band zu Gast und lässt sich zusätzlich vom Babelsberger Filmorchester begleiten. Eine großartige Inszenierung, ein großartiges Konzert. Und ja, Gemma Ray kann sich sehr wohl in ihrem Outfit bühnentauglich bewegen und ihr Bodenequipment bedienen.
Als die Sängerin, die heute in Berlin-Kreuzberg lebt, in Essex in Südengland geboren wurde, waren die 60er-Jahre längst vergessen. Mit 15 Jahren begann sie, Musik zu machen. „Ich wollte ein bisschen auf meiner Gitarre rumhacken“, sagt sie Samstagabend zwischen den Songs. „Und jetzt ist das draus geworden!“ Man muss sich die Musik der 33-jährigen Frau als einen Ausflug in die wilden, psychedelischen Zeiten vorstellen.
Ein wenig peinlich berührt steht Gemma Ray auf der Bühne, unentschlossen zwischen bravem Schulmädchen-Image und Vamp. Doch diese Inszenierung steht ihr hervorragend. In ihren Songs, meist im Komplettpaket mit Band und Orchester vorgetragen, aber auch mal reduziert auf das eine oder andere, geht es meist genau darum: mit Mann oder ohne? Ist der Typ Rettung oder Gefahr? Entscheiden kann und will sie sich nicht, sie singt so herrlich unprätentiös aus ihrem unentschiedenen Inneren. Man mag sich, was Stimme und Auftreten betrifft, an Nora Jones und eine entschleunigte Amy Winehouse erinnert fühlen – aber das trifft es nur am Rande. Gemma Ray steht ganz für sich.
Auf ihrer Halb-Akustik Gitarre produziert sie schräge Akkorde und Melodien irgendwo zwischen Cowboyromantik und Hawaii-Feeling, nutzt Verzerrer und Echoeffekte und gleitet mit dem Rücken eines großen Küchenmessers als Bottleneck-Ersatz über das Griffbrett. Dazu kommt ihre Stimme, mal verhaucht, mal intensiv oder verspielt, und immer unglaublich deutlich, sodass man auch als Nichtmuttersprachler eine Chance hat, die englischen Texte zu verstehen. „Won’t you come over and rescue me?“, singt sie, komm doch her und rette mich. An anderer Stelle: „Don’t call me, it only makes it worse“, ruf mich nicht an, das macht es nur noch schlimmer. Mit unschuldiger Stimme säuselt sie unbedarft und dabei rücksichtslos Wahrheiten vor sich her. Doch immer wieder gewinnt auch die Unvernunft Oberhand, singt Gemma Ray über Leidenschaft und Liebe, Gefühle und das Sich-vergessen. Sie schließt die Augen, umhüllt das Mikro mit ihren Händen und wispert hinein, kommt dabei manchmal auch ganz ohne Worte aus. Dann wieder gibt der Background-Chor dem Ganzen eine theatralische Note, die Sängerinnen, ebenfalls im Sixties-Look mit Kate-Moss-Schlafzimmerblick, rühren zärtlich mit ihren Armen durch die Luft und summen dazu süße Melodien.
Stilecht ist auch die Band. Der Bassist mit Pilzkopf würde zu den Beatles passen, allesamt haben sie sich auf enge Röhrenhosen geeinigt. Mit treibenden Jazz-Drums und sanfter Schweineorgel-Begleitung wird daraus der Soundtrack für ein Schwarzweiß-Roadmovie, irgendwo zu Highnoon in Arkansas. Der Effekt verstärkt sich, wenn das Filmorchester zu Höchstleistung aufläuft: Die wunderbaren anspruchsvollen Arrangements stellen mal die sanften Streicher, mal die warmen Bläser in den Mittelpunkt, Theatralik, die jedoch niemals Zweifel daran lässt, dass hier Gemma Ray die Hauptperson ist.
Am Samstagabend im Nikolaisaal wären noch ein paar Plätze frei gewesen – die, die da waren, konnten aber nicht genug kriegen. Steffi Pyanoe
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