Kultur: Rotkäppchen im Briefumschlag
Ein Aufstieg in die Winzigkeit /Ausstellung des Berliner Papiertheaters INVISIUS im Pomonatempel
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Ein Aufstieg in die Winzigkeit /Ausstellung des Berliner Papiertheaters INVISIUS im Pomonatempel Am Pfingstberg wird der Mensch zum Frosch. Was einem auch vor die Augen kommt, scheint höher als man selbst. Die Große Weinmeisterstraße im Rücken, strebt man die neuen Gartenpfade hinauf, ohne die prachtvollen Bauten zu sehen, die einen oben erwarten; nur Bäume und Ziergesträuch am Wege. Der hübsche Pomona-Tempel mit einer sehenswerten Ausstellung für Adleraugen ist ein Etappenziel kurz vor dem Gipfel der Höhe. Das Berliner Papiertheater INVISIUS stellt dort mit Mini-Bühnen zum Freischütz, zu Rotkäppchen und anderen märchenhaften Originalen gleichsam seine theatralische Anatomie zur Schau. Klein wie dieses papyr''ne Theater ist auch der Raum seines Tempels. Auf vier mal vier Metern ersteht eine Kunstwelt liebenswerter Vergangenheit. Historische Spielvorlagen von „Robinson Crusoe“ oder „Martha“ in Vitrinen, Versatzstücke, Druckvorlagen für die ganze Rotkäppchen- und Schneewittchen-Sippe im Biedermeier-Stil zum Ausschneiden, eine treffliche „Faust“- Bühne en miniature in der Mitte, wie man sich das jenseits aller Moderne vorstellt und wünscht. Alle Stücke sind im Privatbesitz der beiden Berliner Dorett und Rüdiger Koch. Selbiger putzte und ordnete das alles eifrig bis zur letzten Minute vor der offiziellen Eröffnung am Nachmittag. Klein und fein bis zur großen Noblesse. Diese Exposition mit dem zugkräftigen Titel „Rotkäppchen im Briefumschlag“ ist Teil eines interessanten Projektes des Potsdamer Vereins Il Ponte, zu dem ein Märchenkongress im September ebenso gehört wie das, was einen am Plateau des Pfingstberges erwartete. Brücken zwischen der Kultur Italiens und den Potsdamer Arkadien zu schlagen, ist Il Pontes erklärtes Ziel, „Goldene Brücken“. Das findet im Förderverein Pfingstberg eifrige Helfer, nur nennt man die märchenhafte Veranstaltungsfülle, welche tief in den Folgemonat greift, „Kultur in der Natur“. Weiter hinauf, wo der Wandelgang des Lindenrunds eine schöngrüne Wiese freigibt, und endlich auch den Blick auf das herrliche Belvedere, aus der Froschperspektive freilich, hörten hunderte Gäste „Symphonische Klänge zur Sommerzeit“. Mit diesem Gratis-Konzert entließ sich das Sinfonieorchester der Potsdamer Musikschule „Johann Sebastian Bach“ aus seiner Werkstatt-Woche. Auch hier wurden Brücken geschlagen, denn sowohl aus dem italienischen Perugia als auch aus Opole, Partnerstädte Potsdams, waren Musiker zu dem wohltemperierten Orchester gestoßen, welches Jürgen Runge mit Behutsamkeit und viel Gefühl für jugendlicher Musizierart dirigierte. Zahlreiches Volk lagerte sich, zu Stuhl oder ebener Erde, Apfel- und Zitronenkuchen wurden zum Kaffee geboten. Darüber, von unten gesehen sehr klein, promenierte man auf Pegasus-Höhen, stieg in den Himmel auf Türmen. Milde verstrahlt die Sonne ihr Licht. Wunderbar, dieser Nachmittag, wie im Märchen. Das Belvedere, ein Riese aus Schönheit, macht den Menschen zum Frosch, immer muss er nach aufwärts schauen. Kultiviert, angenehm gebremst und in allen Teilen hörenswert, das Konzert der Bach-Eleven. Im ersten Teil gab es Klassik im erweiterten Sinnbegriff, eine zünftige Polonaise des Russen Anatol Ljadow, als Referenz an den Namenspatron die Orchesterfassung von „Wachet auf ruft uns die Stimme", sehr schön, aus Dvoraks 7. Sinfonie das Scherzo des dritten Satzes, alles sehr frisch und originell musiziert. Selten gespielt und beileibe nicht fehl am Platze dann Ottmar Gersters Capricietto für vier Pauken und Streichorchester (Solist war Jakob Eschenburg), eine Glanzleistung Open Air! Tschaikowskis 2. Satz aus der 6. Sinfonie mit großer Milde, dann, nach der Pause ging es moderner zu. Star Wars (John Williams), Ein amerikanischer Traum (James Horner) und ein hübsches Jazz-Legato (Leroy Anderson) fanden den Beifall der sommerlichen Pfingstberg-Gäste spielendleicht. Als Zugabe, na klar, die längst bekannte Ouvertüre aus Bizets „Carmen“, welche, mit ihrem vornehmen Blech, nirgends so schön klang wie im Rund der sorgsam gestutzten Linden. Der Steinriese freute sich in seinem Glanz. Ein Nachmittag voller Harmonien und Schönheit, welcher den Menschenzwerg schnell vergessen machte, dass unten in der Stadt längst große Unruh tobte für die Schlössernacht. Dort wähnt er sich mächtig, aber hier auf dem Berg hat nicht er das Sagen, ein anderer bestimmt. Wieder hinab, wird einem klar, dass es bei INVISIUS im Tempel der Pomona nicht anders ist. Wie der Stein am Belvedere, so hat der kleinste Bogen Papier mit der Rotkäppchen-Sippe über den Menschen viel Macht. Selbst im Briefumschlag. Gerold Paul Die Ausstellung im Pomona-Tempel ist bis zum 28. September, Sa. und So. 15 - 18 Uhr geöffnet.
Gerold Paul
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