Kultur: Saitenhiebe
Apocalyptica mit Cello-Metal im Nikolaisaal beendeten das Europafest in Potsdams historischer Mitte
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Apocalyptica mit Cello-Metal im Nikolaisaal beendeten das Europafest in Potsdams historischer Mitte Von Christoph Henkel Vor knapp zehn Jahren traten Apocalyptica aus den Tiefen finnischer Wälder auf die internationale Musikbühne, um konservativen Klassikliebhabern aber auch engstirnigen Metalfreaks das Fürchten zu lernen. Es gibt wenige Musiker, die von sich behaupten können, Metal-Cellisten zu sein. Apocalyptica gelang die Kreuzung mit Interpretationen von Songs der Metal-Helden „Metallica“ für das Cello. Der Nikolaisaal, der eigentlich für entspanntere Kost aus dem Klassik- oder Jazz-Bereich steht, jetzt also mit fünf Finnen auf der Bühne, die alle klassischen Spielweisen auf ihren Instrumenten über Bord werfen und pro Show ein Dutzend Cello-Bögen verheizen. Ein bis auf den letzten Platz gefüllter Saal ist die Belohnung für den Mut der Veranstalter. Im blauen Schummerlicht zeichnen sich auf der Bühne Podeste ab, auf denen schaurig verzierte Stühle thronen. Die Lehnen sehen aus wie Sargdeckel. Ein Schlagzeug dominiert den hinteren Teil der Bühne, der fast vollständig im Nebel verschwindet. Aus dieser Dampfwand brechen Apocalyptica hervor, tragen ihre Celli lässig auf die Podeste und lassen sich einige Sekunden feiern. Mit „Path“ eröffnen sie ihr Set und geben den Leuten im Publikum noch eine Gnadenfrist den Saal schnellstens zu verlassen, die immer noch denken, die jungen Herren würden gleich „Die vier Jahreszeiten“ von Vivaldi anstimmen. Danach geht es zur Sache: bebend kracht das Anfangsriff von „Master of Puppets“ durch den Saal. Zum Rock“n“Roll - Gruß gekrümmte Finger werden gen Bühne gereckt und der Refrain wird schallend mitgesungen. Drummer Mikko Siren sitzt in orthopädisch nicht empfehlenswerter Position tief über sein Schlagzeug gebeugt und drischt auf die Felle und Becken, dass es nur so scheppert. Schon nach wenigen Minuten ist er schweißüberströmt. „Nur weil wir sitzen müssen, heißt das nicht, dass ihr nicht aufstehen dürft“, animiert Toppinen das Publikum. Das lässt sich nicht lange bitten: kurze Zeit später sind der Graben vor der Bühne und die Gänge mit Menschen gefüllt. Selten waren im Nikolaisaal derartige Szenen zu erleben: Haare wirbeln durch die Luft und auf der Bühne bearbeiten Musiker ihre Celli, ohne sich an irgendwelche Regeln der Kunst zu halten. Bei „Fight Fire with Fire“ verlassen Perttu Kivilaakso und Eicca Toppinen ihre Podeste und spielen stehend am Bühnenrand. Wie besessen lassen sie die Bögen auf ihre Instrumente sausen. „Creeping Death“, „Seek and Destroy“, „Enter Sandman“ – es sind besonders die Coverversionen, die frenetischen Beifall und Gekreische hervorrufen. Als kleine Insel der Entspannung ragt „Nothing Else Matters“ aus dem Set. Fünf Minuten beweist die Band, dass sie des Vibratos auf ihren Instrumenten durchaus mächtig sind. Doch kurz darauf springen sie wieder von ihren Stühlen und tragen ihr Instrument von einem Bühnenende ans andere. Nur Antero Manninen lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und spielt stoisch seine Power-Riffs. Vielleicht ist sein gesittetes Verhalten darauf zurückzuführen, dass Manninen die Saiten auch im finnischen Symphonie-Orchester streicht, die höchstwahrscheinlich ein anderes Repertoire haben. Obwohl: als letzte Zugabe begeben wir uns in die „Halle des Bergkönigs“ von Edvard Grieg. Effektvoll variieren Apocalyptica Tempo und Lautstärke des klassischen Stücks. Ein letztes Mal teilt die Band – die das Europafest in Potsdams historischer Mitte beendet – Saitenhiebe der ruppigsten Art aus. Ein euphorisiertes Publikum überlegt im Hinausgehen, ob nicht vielleicht Cello-Unterricht die interessante Alternative zur E-Gitarre wäre.
Christoph Henkel
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