„Geschichte wird gemacht, es geht voran“ hat die Punkband Fehlfarben 1982 gesungen. „Vergessen macht sich breit Graue B-Film-Helden regieren bald die Welt.“ Hübsche Doppeldeutigkeit: Geschichte machen durch Ereignisse – oder im Nachhinein die Abfolge der Ereignisse zur Geschichte erklären. Wenn das Vergessen nicht all dem zuvorkommt.
Thomas Heises Dokumentensammlung, wie er es selbst nennt, zusammengesetzt zum Film mit Überlänge, hat er schlicht „Material“ genannt. 166 Minuten Reste von Dreharbeiten, Aufträgen, Arbeiten, die nie fertig wurden, weil dem freien Filmemacher das Geld ausging. „Immer bleibt was übrig, ein Rest, der nicht aufgeht. Dann liegen die Bilder herum“, sagt ein Sprecher aus dem Off zu Beginn von „Material“. Und bevor es herumlag, dem unweigerlichen Verfall preisgegeben, wurde daraus ein eigenes Projekt. Zum ersten Filmgespräch nach der Sommerpause war zu eben diesem Film ins Filmmuseum eingeladen worden, allerdings konnten sich nur wenige Besucher für Thomas Heises „Material“ begeistern. Doch wer gekommen war, wurde mit einer intimen Sichtweise auf die Dinge belohnt: Der 1955 in Berlin geborene Filmemacher präsentiert ausgewählte Momente der Jahre 1988 bis 2009, ausgewählt und dann doch wieder nicht.
Einer eventuellen Willkürlichkeit, als hätte er die Fenster zu Deutschlands Geschichte durch einen Zufallsgenerator öffnen lassen, steht eine sehr bewusste Reihung der einzelnen Komponenten gegenüber. „Man kann sich die Geschichte länglich denken. Sie ist aber ein Haufen“, sagt Heise. Aber ein Film, selbst wenn er aufgedröselt auf einem Haufen läge, hat nun mal einen Anfang und ein Ende. Und durch den Schnitt überträgt Heise unweigerlich seine Sichtweise, sortiert den Haufen für den Betrachter vor. Und man ahnt: Vielleicht steht man hier doch nicht am Grabbeltisch deutscher Momente, sondern vor einem Schatzkästchen.
„Die offizielle Darstellung der Wende in den Medien entsprach nicht der Realität“, sagte Heise im Gespräch. Das sei auch ein Grund für diese Arbeit gewesen. Zu zeigen, was jenseits der ikonenhaften, abgenutzten Bilder von Mauern durchbrechenden Trabis passierte. Was unterm Schneidetisch landete, erzeugt auch heute, 20 Jahre danach, Gänsehaut, gerade weil es unbekanntes „Material“ ist.
Die farbleeren, meist schwarz-weißen Aufnahmen sprechen für sich, sie brauchen keinen Erzähler. Und Heise gab sich und der Geschichte Zeit. Aus Momenten wurden langatmige Sequenzen, die durch ihre Echtzeit Spannung aufbauen. Sie zeigen Verletzbarkeit, Angst, Wut und Ungewissheit gerade durch die Abwesenheit vom Erzähler und die sparsam eingesetzte Musik, die dann umso eindrücklicher wirkt. Der Betrachter wird zum Augenzeugen. Gezwungen, sich selbst ein Urteil zu bilden, zu hinterfragen. Wenn der Stasimitarbeiter in der letzten Sitzung der Volkskammer sich kämpferisch gibt und schließlich seine eigene Opferakte hervorholt, bleibt offen, ob der reumütige Abgeordnete ehrlich ist. Lüge, Wahrheit, Recht, Unrecht, rechts, links. Wenn die Nazis in Halle einen Kinosaal zerlegen, weil sie mit Panik auf einen Angriff aus der autonomen Szene reagieren, sieht man ihre blutverschmierten Gesichter, in denen Angst steht, und eine seltsam passive Zuschauermenge. Keiner holt die Polizei. Die Geschehnisse sortieren sich selbst. Kostbar die Aufnahmen aus der Brandenburger Justizvollzugsanstalt. Heise war es gelungen, als offizielles DDR-Fernsehteam den Betriebsversammlungen der Angestellten beiwohnen zu dürfen. Es offenbart sich eine Welt in der Welt, die Wende hinter Gittern. Insassen, die Gewaltverzicht propagieren, und Vollzugsbeamte, die vielleicht zum ersten Mal auf ihr Gewissen hören dürfen. Die Kamera schwebt minutenlang über einem Modell der ganzen Knastanlage, wie eine Modelleisenbahnplatte, sauber, aufgeräumt. Sportplätze, Rasen. Und assoziiert doch unweigerlich Luftaufnahmen der Vernichtungslager der Nazis. Befremdlich die DDR-Vokabeln der Redner auf Kundgebungen, in Gemeinderatsitzungen: „Ich habe fünf Kinder großgezogen, alle haben Arbeit und eine Wohnung – war das nichts?“, fragt eine Frau ins Mikrofon, eine andere wirbt wie betäubt für den Bund Werktätiger Frauen. Verlustangst, wer waren wir, wer sind wir?
Ein Ruhepol die Aufnahmen mit Fritz Marquardt, dem Dramatiker Heiner Müller und anderen Schauspielern. Eine minutenlange Diskussion Marquardts mit dem Bühnenbildner über hinten und vorn, oben und unten. Die Wichtigkeit des einzelnen Wortes, des Akzents, der Tonhöhe. Zeit für Details – im Theater ist sie da, in der realen Welt fehlte sie oft. „Wäre die Mauer nicht geöffnet worden, hätte die aufgebrachte Menge einen Tag später die Volkskammer gestürmt“, vermutet Heise. Krenz’ Pferdegebiss glänzt noch in die Kamera, dabei ist bereits alles zu Ende. Steffi Pyanoe
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