Heimat ist wohl immer konkret. Sie ist eine Schatzkammer des Erinnerns bis ins hohe Alter. Ilse Gerlach, geboren 1908 im pommerschen Stargard, hat als Vertriebene, wie viele andere ihrer Zeitgenossen, ein hartes Schicksal erdulden müssen. Sie ist mit dem Erzählen über Erlebtes nie hausieren gegangen, sie hat nur selten darüber gesprochen, auch nicht mit ihren fünf Kindern, die ja das Leben als Flüchtlinge mit der Mutter teilten, eher mit den Enkelkindern. 2001 ist sie in Potsdam gestorben. Jetzt ist in der Edition Octopus das Buch „Ich stamme aus Pommern“, das Ilse Gerlachs Erinnerungen aufbewahrt, erschienen.
Vor mehr als 20 Jahren sollten Schüler des damaligen Kirchlichen Oberseminars (heute Gymnasium) auf Hermannswerder eine Arbeit schreiben, die sich mit Menschen befasst, die den Zweiten Weltkrieg erlebten. Susannah Krügeners Deutschlehrer Jürgen Raßbach schlug vor, sich an Ilse Gerlach zu wenden, die sicherlich über diese unselige Zeit viel zu berichten wisse. Die Schülerin fragte die über 80jährige alte Dame, ob sie dies tun würde. Susannah wollte zuhören und das Gehörte festhalten Aber Ilse Gerlach lehnte ab, da sie das mündliche Berichten zu sehr anstrenge. Aber sie machte der Schülerin den Vorschlag, dass sie alles selbst notieren werde, woran sie sich noch erinnere. Ilse Gerlach nahm ein Schulheft und schrieb, Tag für Tag, mit großer Akribie. Ihre unauslöschbaren Erinnerungen nahmen schriftliche Gestalt an. Ursprünglich als reine Schul-Dokumentation gedacht , ist aus ihr ein tief bewegendes Zeitzeugnis, ein lesenswertes Buch geworden, für das Susannah Krügener, heute evangelische Theologin, verantwortlich zeichnet.
Völlig unsentimental berichtet Ilse Gerlach über ihr Leben und das der Familie, nüchtern und herb. Susannah Krügener teilt in ihrem Vorwort mit, dass Ilse Gerlach auch während der Interviews kaum aus sich heraugegangen sei, „nicht einmal dann, als es um ihre recht glückliche Kindheit ging“. Aber wie so oft verbarg sich dahinter nur eine scheinbare Kühle, vielleicht aus Angst vor zu großen Emotionen.
Als Bauerntochter wuchs sie in einer Großfamilie auf, wo sie eine unbeschwerte Kindheit und Jugend verlebte. In Dietrich Gerlach findet sie den Mann fürs Leben. Aber der Zweite Weltkrieg zerstört das private Glück. Der Mann und Vater wird Soldat und fällt, der Familie werden Heimat und Existenzgrundlage genommen. Ilse Gerlach muss den eigenen Bauernhof verlassen, die Heimat. Mit einem Treck von Flüchtlingen ging es Richtung Westen. Schließlich kam man im April 1945 in Waren an der Müritz an. Dort wurde unter großen Entbehrungen ein neues Leben begonnen ...
Das Buch wird nicht nur durch historische Fotos ergänzt, sondern auch durch den Front-Briefwechsel zwischen Ilse und Dietrich Gerlach. „Eben habe ich mir ein paar Knöpfe angenäht. Das erste Paar Strümpfe hat schon Löcher. Wer stopft sie mir“, schreibt der Ehemann und Vater von der Front nach Hause. Dann gibt er noch ein paar Ratschläge: „Seht zu, dass Ihr alles Kartoffel-, Rüben- und Wruken vor dem Winter tiefgepflügt bekommt. Den Pferden und Ochsen jetzt keine Ruhe lassen. Was macht die hochtragende Kuh?“ Im Nachtrag ist zu lesen: Dietrich Gerlachs Leichnam wurde 1994 von der Kriegsgräberfürsorge vom Schlachtfeld geborgen und auf den Friedhof in Saldus/Lettland umgebettet.
Dieses Buch bewahrt kostbare Erinnerungen auf, für uns und für die, die nach uns kommen. Klaus Büstrin
Ilse Gerlach, Ich stamme aus Pommern, ein Zeitzeugnis von Susannah Krügener, Edition Octopus, 12,80 Euro, ISBN 3-86582-239-8.
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