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Kultur: Scheußliche Unentrinnbarkeit

Zivile Lager wie in Jüterbog sollten nationalsozialistische Volksgemeinschaft formen

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Zivile Lager wie in Jüterbog sollten nationalsozialistische Volksgemeinschaft formen Nach der Machtübernahme des Nationalsozialismus ließ der preußische Justizminister Hanns Kerrl 1933 in Jüterbog ein nach ihm benanntes Lager für jeweils etwa 600 Referendare einrichten. Es sollte die jungen Juristen „aus allen Gauen“ zur Kameradschaft zusammenführen und „die weltanschaulichen Grundlagen ihres Wissens“ vertiefen. Kentnisse über dieses Lager sind dem Publizisten Sebastian Haffner zu verdanken, der einer der jungen Referendare war. Obwohl sie kurz vor dem Examen standen, durften sie dafür im Lager nicht lernen – manche taten es indes heimlich, indem sie in nahe gelegenen Gasthöfen Zimmer mieteten. Vielmehr sollten sie hier auf die nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ eingeschworen werden, deren Verwirklichung über Recht und Gesetz stand. Die Individualität, der „bürgerliche Schnösel“, wurde den Lagerteilnehmern ausgetrieben. Bezeichnend ist ein Foto, dass Kerrl und die Referendare unter einem Galgen zeigt, an dem das Paragrafenzeichen aufgehängt ist. Dieses Beispiel führte Prof. Dr. Manfred Hettling, Unversität Halle-Wittenberg, in seinem vom Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung veranstalteten Vortrag „Zivile Lager im Nationalsozialismus“ an. Sebastian Haffners Schilderung ist eine der wenigen Quellen, die der Historiker bisher zu seinem neuen Forschungsthema auffinden konnte. Während über die Konzentrationslager, in denen rassisch, politisch, religiös oder sexuell „Andersartige“ isoliert und letztlich zum großen Teil ermordet wurden, detaillierte Forschungsergebisse vorliegen, fehlen sie für die zivilen Lager fast völlig. Dabei haben diese in der Erziehung der „Volksgenossen“ zur nationalsozialistischen Gesinnung und Haltung eine entscheidende, angesichts der verbrecherischen Charakters des NS-Regimes eine verheerende Rolle gespielt. Es gab kaum einen, der nicht durch ein Reichsarbeitslager (RAD), Frauenlager, Lehrerlager, Beamtenlager, Hitlerjugendlager, Lager des Bundes Deutscher Mädchen (BDM), Mütter- und Hauswirtschaftslager, Kinderlandverschickung u.a. in diese Form der (Um)Erziehung einbezogen wurde. Dabei stellte die nationalsozialistische Führung das Gemeinschaftserlebnis geschickt über den Zwang. Die „politische Bildung“ nahm wenig Platz ein – im Vordergrund standen unter dem Motto „Freude – Zucht – Glaube" gemeinsames Sportreiben, Wanderungen und Kameradschaftsabende. Von Prof. Hettling befragte Zeitzeugen räumen noch heute ein, dass die Lager eine hohe Faszination auf sie ausgeübt hätten. Selbst Haffner schreibt von einer „scheußlichen Unentrinnbarkeit“. Aus der Zuhörerrunde kamen zahlreiche Fragen – so, ob Hettling den paramilitärischen Charakter der zivilen Lager nicht außen vor gelassen hätte. Doch den konnte der Historiker nicht erkennen – gegenüber dem durch Befehle gesteuerten Militär seien in den Lagern Überzeugung und Gemeinschaftserlebnis die Erziehungsmittel gewesen. Einig waren sich am Ende der Veranstaltung aber alle, dass die Forschungen intensiviert werden müssen, geben sie doch entscheidende Antworten auf die Frage, wie die Mehrheit des deutschen Volkes den nationalsozialistischen Verführern folgen konnte. Die Bedeutung der zivilen Lager, meint Hettling, sei dafür weitaus größer gewesen als die der NS-Propaganda. Erhart Hohenstein

Erhart Hohenstein

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