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Eingefrorene Zeit. Nick Steur baut Steinhaufen. Das hat er schon als Kind am Meer gerne getan. Heute folgte er dabei dem Prinzip je schwieriger, desto besser.

© Unidram

Kultur: Schwerkraft, wo bist du?

Auf dem Theaterfestival Unidram hat man sich am zweiten Tag mit „Freeze!“ und „Forgotten Song“ gegen das Prinzip der Wahrscheinlichkeit gestemmt

Stand:

Der niederländische Künstler Nick Steur ist ein ziemlicher Kritikeralptraum. Das hat einige, vor allem aber drei Gründe. Erstens: Steur setzt sein Publikum nicht in einen abgedunkelten Raum, sondern in grelles Neonlicht, auf niedrige Matten vor die Wände eines Ausstellungsraums im museum Fluxus+. Wie da unbemerkt, oder zumindest so diskret wie möglich, Notizen in die Kladde kritzeln? All die Gedankenblitze, feinsinnigen Beobachtungen und hübschen Formulierungen, wohin damit? Zweitens: Steur redet so viel und tut so wenig, dass man nie weiß, ob hier eigentlich gerade sehr viel geschieht oder überhaupt nichts. Worauf sich da konzentrieren, worüber sich erregen? Drittens: Steur ist ein Prediger des Augenblicks, der Gegenwart, und als solcher naturgemäß ein Feind jener Distanz zum Geschehen, die Kritiker gerne kritisch nennen. Steur fordert vom Zuschauer volle Aufmerksamkeit, volle Präsenz im Jetzt. Dabei ist Steur, viertens, ein sehr zugewandter Mensch. Einer, der sich am Ende der Vorstellung für die Konzentration des Publikums bedankt.

Seine Performance „Freeze!“ ist zwischendrin so aufmerksamkeitsknisternd still, dass man den Stift hören könnte, wenn der sich traute, sich übers Papier zu bewegen. Doch zur Sache, was macht Steur da eigentlich im Fluxus-Museum? Er baut Steinhaufen. Das hat er, erfahren wir, immer schon gerne gemacht, als Kind hat das angefangen. Am Meer. Es ist zu vermuten, dass er damals noch nicht ganz so gewagte Gebilde kreierte wie in „Freeze!“ – fast ist zu hoffen, dass auch Nick Steur mal mit dem simplen Bauklotz-für-Anfänger-Prinzip begonnen hat: Unten die Großen darüber die Kleinen. Heute scheint Steurs Bauprinzip am ehesten zu sein: Je schwieriger, desto besser. Die Zierlichen nach unten, die Großen senkrecht, und am besten noch einen Weiteren ganz oben drauf. „Schwerkraft“, will man empört, verzaubert rufen, „wo bist du?“ Dass einige Konstrukte nicht geklebt sind, glauben wir nur, weil wir die Mühe und Geduld gesehen haben, die es braucht, um diese Bauten zu errichten. Was ist das Geheimnis dieses Steinebauers, sondert er klebrige Sekrete aus, werden die Blöcke in seinen Händen zu Schwämmen?

Nein, der Mann hat Geduld, ein Empfinden für Statik und den unbedingten Willen, dass da am Ende etwas steht, etwas Neues. Etwas, dessen Entstehung die Anwesenden bezeugen können. Steur legt alles darauf an, dass wir genau das, dieses Ihr-wart-Dabei, verstehen. Weil er nicht möchte, dass wir gedanklich ins Eigene, in die Kindheit am Meer, zu Kubricks Anfangsszene von „2001“ oder sonst wohin abdriften, spielt er parallel zum Steinschlösserbauen die Aufnahme eines selbst verlesenen Textes ein. Das ist anfangs unterhaltsam, dann ermüdend und immer so gewollt.

Steuer erzählt vom Steinebauen am Meer, davon, dass die englische Sprache cooler ist als die niederländische und dass er das nur erzählt, damit wir, das Publikum, die Stille nach all diesen überflüssigen Informationen zu schätzen wissen. Dann lässt er sich Steine vom Publikum reichen, das hat ein bisschen was von Klassenzimmer. Die Menschen im grellen Licht können sich nicht unterm Blick des Lehrers wegducken, beim besten Willen. Wenn sie mitmachen, ernten sie Lächeln.

„Gemeinsam bauen wir eine Stadt“ könnte dieses Projekt geheißen haben. Am Ende sind die Teilnehmer, Mit-Konstrukteure, Beobachter, eingeladen, die errichtete Landschaft aus allen Perspektiven anzusehen. Aber Hände weg und nicht zu nah herangehen, die Steine könnten fallen, die Spiegelglasquader im Raum kaputtgehen! Andächtig schleicht das Publikum um die Türme aus Stein, beguckt die so eingefrorene, soeben hier verbrachte Zeit. Warum ist das stille Betrachten dieses gemeinsamen Moments so beglückend?

Aber kein Stillstand, die nächste Inszenierung wartet, vorne im T-Werk. Wo bei „Freeze!“ Stille und Text war, ist bei „Forgotten Song“ kein Text und Rhythmus. Vom grellen Licht zurück ins bekannte Theater-Dunkel. Von der spröden, knisternden Konzentration der Performance in eine Kleinkunst-Zirkuswelt zwischen Akrobatik und Objekttheater. Die neun Männer und Frauen der Kompánia Theatre Studio aus Ungarn setzen sich zu Anfang in eine Reihe nebeneinander auf niedrige Podeste. Jeder hat eine kleine Insel aus Holz unter sich, jede größere Bewegung bedeutet ein Herunter- oder Herübersteigen. Sie sind bunt geschminkt, die Frauen in farbigen Rüschenkleidern, die Männer mit nackten Bäuchen unter verschlissenen Sakkos. Clownesk-traurige Artisten, Vagabunden, die mit Geige, Viola da Gamba und Cello Musik machen und aus den unwahrscheinlichsten Gegenständen Rhythmen zaubern – aus Waschbrettern, metallenen Käsereiben, Milchkannen.

In Alltagsgegenständen stecken für die Kompánia Theatre Studio offenbar die „Forgotten Songs“, nach denen sie suchen. Sehnsüchte, Untiefen, Ängste, Albernheiten. Auf dieser Suche hat die Kompánia allerhand entdeckt. Papierschiffchen können in den Mulden eines nackten Frauenkörpers spazieren fahren. Ohrringe können die neun Performer zu ganzen lautmalerischen Oden inspirieren. Und eine Saite kann man nicht nur auf einen Bogen, sondern auch zwischen zwei Menschen aufspannen. Darauf lässt sich dann sogar spielen, irgendwie. Und weil die beiden Menschen, die an diesem Saiten-Seil aneinanderhängen, Mann und Frau sind, lässt sich so eine ganz eigenwillige, nun ja spannungsgeladene Geschichte erzählen. Auch Mikado kann man übrigens auf einer nackten Frau spielen, nur dass die Männer dabei so sehr zittern, dass ihnen die Stäbe immer verrutschen.

Ja, „Forgotten Song“ steckt voller erstaunlicher Dinge und Kunstfertigkeiten. Die Szene, in der eine der Darstellerinnen, ganz Dame, feierlich vor das Mikrofon tritt, mit großer Geste ausholt und dann nur spitze Quietschlaute von sich gibt, kann es durchaus mit Chaplins Eingangsszene in „Lichter der Großstadt“ aufnehmen. Oder geht es um etwas ganz Anderes? Geht es überhaupt um irgendwas? Schon mit der Frage danach ist doch die Übung verfehlt, hört man Lehrer Steur da sagen. Gegenwart! Präsenzpflicht! Wie gesagt, ein ziemlicher Kritikeralptraum. Im besten Sinne.

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