
© Andreas Klaer
Von Philipp Kühl: Schwermut adé
Musik gab es am Wochenende reichlich in der Alexandrowka – doch getanzt hat kaum einer
Stand:
Musik vermag es so manche trübe Seele vor der Melancholie retten. Das wusste schon Friedrich Wilhelm III., als er 1812 aus einer Gruppe von 500 russischen Kriegsgefangenen einen Soldatenchor rekrutieren ließ. Den preußischen König plagte bisweilen die Schwermut und die traurig-schönen Lieder der Russen sollten ihm Linderung verschaffen. Später, als die politischen Verhältnisse zwischen Preußen und Russland wieder harmonisch waren, verzichtete der Zar Alexander I. auf seine Soldaten und machte sie dem Preußenkönig zum Geschenk. Doch die Männer hatten fürchterliches Heimweh und starben reihenweise. Im Jahre 1826 gründete Friedrich Wilhelm III. die russische Sängerkolonie „Alexandrowka“ um den verbliebenen Männern wenigstens das Gefühl einer Heimat zu geben.
183 Jahre später ist es wieder die Musik, die das Geschehen in Alexandrowka dominiert. Bereits zum dritten Mal fand am vergangenen Wochenende in der Kolonie das Festival der russischen Kulturen statt. Viel Musik war zu hören, doch von Melancholie dabei nichts zu spüren. Schon am Nachmittag tollten die Kinder ausgelassenen in den riesigen Gärten. Trotz vereinzelter Regentropfen kamen bereits am Samstag zahlreiche Besucher, um ein Blick in die Blockhäuser zu werfen oder sich unter einem Obstbaum mit einer dampfenden Borschtsch niederzulassen.
Vladislav Orbatzky reiste in einigen Gartenkonzerten mit seinem Akkordeon um die Welt und erweiterte damit nicht nur den geographischen Horizont seiner Zuhörer. Sein Instrument offenbarte ein verblüffende Vielfalt vom Broadway- Swing bis zum Balkan-Blues. Auf der Wiesenbühne schunkelten sich derweil schon einige Gäste unter ihren Regenschirmen mit dem „Trio Scho“ und den „Rock-Chanson á la Russe“ von Pavel Gaida und Eudhino Soares ein. Bei letzteren bekam man eine Ahnung, was der gute Friedrich Wilhelm III. wohl in den russischen Liedern gesucht hatte. Der hingebungsvolle Gesang von Pavel Gaida und die sanften Klänge der beiden Gitarren legten sich wie ein wärmender Mantel um das Publikum.
Höhepunkt bildete dann am Abend der Auftritt von „Schnaftl- Ufftschik“. Hinter dem exotischen Bandnamen verbirgt sich kein gefährliches Virus, sondern die Geschichte eines westsibirischen Waldkobolds, der mit den rund 150 verbliebenen Zuschauern auf der Transib durch die Alexandrowka reiste. Mit im Gepäck hatten die sechs Musiker eine Klarinette, Trompete, Perkussion, Akkordeon, Posaune und ein gewaltiges, der Tuba ähnliches Sousaphon. Damit zelebrierten sie ihre Mischung aus traditioneller Blasmusik, Klezmer und Balkan-Rhythmen. Vorbei am Ural über das schwarze Meer bis in die Türkei trug der Zug das Publikum durch die Landschaft. Jeder der Musiker erzählte in den Soloparts einen Teilabschnitt der langen Fahrt. Und Stück für Stück wurde ein Gang höher geschaltet, bis bald auf der Bühne die Beine in die Luft geworfen wurden. Da blieb es auch nicht aus, dass die einzelnen Waggons ab und an aus dem Rhythmus ruckelten. Spätestens bei ihrer Klezmerversion von „Stayin alive“, ursprünglich ein Stück der „Bee Gees“, hätte dann der erste erfolgreiche Tag des Festivals mit einem zünftigen Tanz beendet werden können. Doch die wiederholte Aufforderung der Musiker „Leute, es darf auch getanzt werden“ prahlte an den aufgestellten Sitzreihen ab. Zu gemütlich hatten es sich die Zuhörer bereits auf ihren Stühlen gemacht. Wenn schon die Schwermut an diesem Tag keine Chance bekommen hatte, dann sollte wenigstens am Ende die Schwerkraft siegen.
Philipp Kühl
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: