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Kultur: Senioren besetzen leerstehende Kitas

Luxus der Leere: Der Film „Nicht mehr, noch nicht“ eröffnet Diskussion über Potential von Brachen

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Der Film erinnert an das Märchen „Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen“. In diesem Fall waren es zwei, die sich auf den Weg machten und nicht lange suchen mussten, um Bilder der Düsternis und des Schreckens zu finden. Vernagelte Fenster, verwaiste Straßenzüge, Hochhäuser mit schwarzen bohrenden Augen. Geisterorte. Kein Märchen, sondern bittere, von der Politik lange verdrängte Realität, die den Regisseuren Daniel Kuhle und Holger Lauinger begegnete. Liverpool gebärdet sich besonders drastisch: nur fünf Minuten von der Fußgängerzone entfernt, ist man mitten im Ghetto. Gewalt liegt in der Luft. Die englische Stadt hat aber längst deutsche „Nachahmer“ gefunden: Dessau, Halle ... Es werden immer mehr.

Derzeit stehen 1,3 Millionen Wohnungen in Ostdeutschland leer – das sind so viel wie zwei Drittel von Berlin. „Das ist erst der Anfang. Die eigentliche demografische Schrumpfung steht noch bevor, wenn die nach 1990 geborenen Kinder keine Kinder mehr bekommen“, sagt Regisseur Holger Lauinger. Sein Dokumentarfilm „Nicht-mehr, noch-nicht“ zeichnet ein Schreckensszenario – und entlässt den Betrachter am Ende doch noch mit aufmunternden Visionen.

Das 2004 gedrehte Essay ist der Auftakt für das Filmgespräch „Luxus der Leere“, das morgen im Filmmuseum stattfindet. Es nimmt mit auf die Reise in Gegenden, vor denen man am liebsten die Augen verschließt. Statt die versprochenen blühenden Landschaften, sind es die Brachen, die hier grünen – versunken in Meter hohem Unkraut.

Holger Lauinger, der selbst Landschaftsplanung studierte, holte Fachleute vor die Kamera, die nichts beschönigen: „Wir haben gar keine Bilder, was es heißt, wenn plötzlich nur noch die Hälfte der Leute da ist: Jeder zweite Nachbar weg ist, jeder zweite Platz im Bus leer bleibt. Wir werden gar nicht schaffen, alles abzureißen, was leer steht“, so Architekturkritiker Wolfgang Kil. „Der Bund stellte 2002 rund 2,5 Mrd. Euro zur Entwicklung von Städte-Konzepten zur Verfügung. Das reicht hinten und vorne nicht. 450 000 Wohnungen kann man damit höchstens abreißen“, untermauert Holger Lauinger.

Und was wird aus diesen sich mehrenden Überbleibseln? Sie sollten für die Öffentlichkeit freigegeben, zu „Spielräumen“ werden, fordern die Stadtplaner. In den 70er Jahren waren es die „schrägen Vögel“, die „Schmuddelkinder“, die für einen anderen Umgang mit Leerstand sorgten. Heute seien ähnliche Prozesse möglich, ja sie sollten von der Gesellschaft forciert werden. „Ich glaube, wenn es nicht von unten kommt und über Besetzungen realisiert wird, dann passiert nichts!“, so der befragte Stadtentwickler Thomas Sieverts.

Was könnte dieser „Luxus der Leere“ konkret bedeuten? „Im Artikel 14 des Grundgesetzes heißt es, dass Eigentum verpflichtet. Wenn sich leerstehende Immobilien nicht vermarkten lassen, sollten sie zur sozialen Aneignung freigegeben werden. Zwischennutzung heißt das Zauberwort, um überhaupt reinzukommen“, sagt Lauinger. Beim Palast der Republik in Berlin war es so, in Eisenhüttenstadt wäre indes so eine Zwischennutzung sicher auch die Endnutzung. „Es ist immer auch eine Frage, ob Städte ein kreatives Milieu haben.“ Die Dokumentarfilmer fanden solche kreativen Entdecker. In Halle-Neustadt zum Beispiel, wo ein leerstehender Betonklotz zum Festivalort wurde: für die Hotel Neustadt-Show. Da gab es Fassadenkletterer, Mini-Golfer auf übrig gebliebenen Schrankwand-Teilen, ein Casino vor Blümchentapete. Die „Orientierungslosigkeit wohnt eine Tür weiter“, war zu lesen. Ein Ort wurde mit Energie aufgeladen und wirkte wie ein Außenbordmotor an der Stadt. Das Festival ist vorbei, der Motor weg, vielleicht fangen die Bewohner nun an zu rudern.

Dass bei Besetzungen mit Gegenwind zu rechnen ist, erzählt der „Fall“ Dietzenbach, der zugleich zeigt, dass es auch in Westdeutschland Brachen gibt. Kinder bauten sich darauf ein Gehege für vier Hühner. Der Bürgermeister witterte Kontrollverlust und mahnte: Wehret den Anfängen, sonst folgt morgen ein Ziegenbock. Die Stadtverordneten stimmten den Bürgermeister nieder. Doch der trat beleidigt nach und verlangte eine Kaution von 1000 Euro.

Das wäre in dem kampferprobten Hamburg sicher nicht passiert, dort gibt es im Kiez St. Pauli die Tradition, sich zur Wehr zu setzen. Und dann entstehen eben fliegende Teppiche und Palmeninseln, werden kollektive Wünsche wahr. „Die Orte stehen unter verschiedenem Druck, wird er besonders groß, geht er auch in die Verwaltung rein“, glaubt Lauinger an Gegenwind für die Bürokratie. Dann werden Brachen nicht als Makel, sondern als Potential gesehen, sind Zwischennutzer mehr als Lückenbüßer. Viel lasse sich da von Amsterdam lernen, wo Theaterleute eine Werft zum Künstlerdorf umbauten – was auch an die Schiffbauergasse in Potsdam erinnert. „Unser Film will Hoffnung machen: Schrumpfende Städte müssen nicht grau und langweilig sein“, betont Lauinger. Er selbst habe sein eigenes „Wünsch dir was“-Bild: „Seniorenvereine übernehmen kostenlos leerstehende Kitas und darüber weht eine Piratenflagge.“ Dem Fürchten also den Garaus machen.

An der morgigen Podiumsdiskussion nehmen teil neue Minister für Infrastruktur und Raumordnung, Reinhard Dellmann, der Architekturkritiker Wolfgang Kil sowie Ludger Brands von der Fachhochschule Potsdam teil. Es moderiert Michael Erbach, PNN-Chefredakteur. Beginn nach der Filmvorführung um 19 Uhr.

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