zum Hauptinhalt

Kultur: Seufzerstücke

Philippe Jaroussky mit Vivaldi pur im Konzerthaus Berlin

Stand:

Lamenti sind ganz schön paradox. Auskomponiertes Verstummen, pure Entsagung, die Erstickung der Musik im Tränenmeer – ein Unding für einen Sänger. Philippe Jaroussky beherrscht dieses Paradox wie sonst keiner. Der Countertenor ist der amtierende Weltmeister des ersterbenden Tons, des hauchfeinen letzten Atemzugs, des ausziselierten Seufzers. Oder vielmehr ist es umgekehrt die Wehklage, die von ihm Besitz ergreift. Hier stehe ich und kann nicht anders: Umringt von den Musikern des Ensembles Artaserse auf der Konzerthaus-Bühne beugt Jaroussky den Oberkörper vor, breitet die Arme aus und macht seine Ähnlichkeit mit Markus Lanz schnell wieder vergessen. Da singt einer nicht in höchsten, zartesten Tönen, es singt vielmehr aus ihm heraus. Der Brustkorb ein Gefäß mit kostbaren Ingredienzien, die Stimmbänder ein erlesenes Saiteninstrument – Anatomie eines Traumwandlers.

Die Musiker legen ihm Ostinati zu Füßen, Pizzicato-Teppiche, bang pochende Orgelpunkte – und Jaroussky betört erneut mit Herzklopfmusik. Vivaldi pur steht auf dem Programm, sakrale und weltliche Arien des venezianischen Barockkomponisten, durchsetzt mit Concerti und einem Satz aus der C-Dur-Sinfonia RV 116. „Stabat Mater“: Jaroussky, mittlerweile 36, tritt als Primus unter Pares nach vorn, mit schlanker, nach wie vor lupenreiner Stimme. „Mentre dormi“: Sein Ringen um vollkommene Schlichtheit, seine Behutsamkeit, ja Demut gegenüber Vivaldis Melismen, seine Kunst, die Erotik von Sekundreibungen bis zur Schmerzgrenze auszukosten, hypnotisieren den Saal.

Jeder Akkord eine Streicheleinheit. Dass sich dennoch keine gefällige Vorweihnachtsseligkeit einstellt, liegt nicht zuletzt am Ensemble Artaserse. Seine beschwingte, tänzerische Art bei gleichzeitig formvollendeter französischer Eleganz erdet den Klang, die lasziven Rubati und zärtlich sich in Terzparallelen aneinanderschmiegenden Streichermelodien reißen den Himmel auf. Ein hinreißender Abend. Nur für die Eifersuchtsarien mit ihren „Messer ins Herz“-Fantasien bleibt Jarousskys Gesang zu ebenmäßig, zu wohlerzogen. Man wünschte sich den Furor einer Cecilia Bartoli. Christiane Peitz

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })