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Kultur: Sie vertraute ihren Helden
Das Filmmuseum ehrt ab heute die Dokumentarfilmregisseurin Gitta Nickel zu ihrem 75. Geburtstag
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Die Dokumentaristin Gitta Nickel, eine der wenigen weiblichen Regisseurinnen in der DDR, bestimmte über Jahrzehnte die Qualität des Defa-Dokumentarfilms mit. Sie hatte einen ganz eigenen filmischen Blick auf die sie umgebende Wirklichkeit. Vor wenigen Tagen beging sie ihren 75. Geburtstag.
Das Filmmuseum gratuliert der Jubilarin vom 1. bis 5. Juni mit der Aufführung von vier ihrer Künstlerporträts: „Gret Palucca“, „Konrad Wolf“, „Die May“, „Paul Dessau“ – alle in den 70er Jahren entstanden. Diese Porträts sind Filme über Begegnungen, die Momente künstlerischer und pädagogischer Arbeit festhalten. Scheinbar außerhalb stehend, beobachtet die Kamera, wie Gret Palucca die neuen Schülerinnen mit dem Tanzunterricht vertraut macht, Paul Dessau einer Schulklasse ein Gefühl für Musik zu vermitteln sucht oder Gisela May die Interpretation eines Liedes erarbeitet. Ein emotional besonders eindringliches Porträt ist das über Konrad Wolf, das während seiner Dreharbeiten zu „Mama, ich lebe“ entstand. Filmausschnitte und Interviewpassagen von Kollegen und Freunden Wolfs – wie des Kameramanns Werner Bergmann – die über ihre Arbeit mit ihm sprechen, aber auch über die Probleme des Defa-Films zu jener Zeit, ergänzen die Beobachtungen während des Drehprozesses. Der Film zeichnet ein berührendes Bild des Menschen und des Künstlers Konrad Wolf.
Gitta Nickel lernte „von der Pieke auf“ alles, was zum Filme machen gehört. Künstlerischer Mentor der frühen Jahre wurde ihr der Dokumentarist Karl Gass, mit dem sie auch verheiratet war und für den sie ab 1963 als Regieassistentin arbeitete. Bereits ihr erster eigener Dokumentarfilm, „Wir verstehen uns“ (1965), über deutsche und sowjetische Kinder erhielt ein Diplom des Internationalen Moskauer Filmfestivals: Es war der erste von vielen internationalen und nationalen Preisen und Auszeichnungen, die ihre Filme immer wieder erwarben.
Im Mittelpunkt ihrer Arbeiten standen oftmals einfache Leute und deren Alltag in der DDR. Zu ihren Protagonisten gehörten die Kälberzüchterin Frieda Franz aus „Heuwetter“ (1972), oder die Arbeiterinnen in der Geflügelmast mit ihrer Brigadeleiterin Christa Klingner in „ und morgen kommen die Polinnen“ (1974). Die Filmemacherin vertraute ihren Helden, begegnete ihnen mit großer Herzlichkeit, ließ sie vor der Kamera selbst ihre Geschichten erzählen. Wohl auch in der Methode, sich vor Beginn der Dreharbeiten völlig in die Umwelt ihrer Akteure zu stellen, mit ihnen mitzuarbeiten, liegt eines der Geheimnisse so authentisch-lebendiger Szenen wie in „ und morgen kommen die Polinnen“, wenn die Brigadierin eine polnische Frau tröstet, die sie mit einem harschen Wort unabsichtlich zum Weinen brachte. Für Gitta Nickel war Filme machen Leben und Leben Filme machen. Eine solche symbiotische Beziehung konnte weder konflikt- noch schmerzfrei verlaufen: Während „Jung sein - und was noch?“ und „Manchmal möchte man fliegen“ nach Schwierigkeiten letztlich doch einem Publikum gezeigt wurden, verschwand „Und der Mensch lebt auf der Erde“ 1983 ohne öffentliche Debatte für sieben Jahre im Keller.
Nach der Wende arbeitete Gitta Nickel freischaffend, aber unvermindert intensiv weiter. Mehr als die Hälfte ihrer 104 Dokumentarfilme entstanden nach 1990 für ORB und MDR, darunter „Es begann in Eberswald/Borgelt und Dengler – zwei deutsche Journalisten“: Spuren nicht nur eines außergewöhnlich produktiven Arbeitslebens, sondern auch einer Selbstverwirklichung als Dokumentarfilmregisseurin, die in Ost und West ihres gleichen sucht.
Heute um 20 Uhr wird im Filmmuseum der Film „Gret Palucca“ von Gitta Nickel gezeigt, in Anwesenheit der Regisseurin
Gabriele Zellmann
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