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Kultur: Silhouetten

Russisch-deutsche Anthologie im Kibuz vorgestellt

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Anthologien stehen nicht gerade im Mittelpunkt des allgemeinen literarischen Interesses. Wer sie dennoch produziert, weiß auch, dass sie keine Kassenschlager werden. Trotz solcher Unwägbarkeiten legen die „Literarisch-künstlerische Werkstatt“ beim Begegnungszentrum Kibuz und das Literaturkollegium Brandenburg jetzt ihre dritte gemeinsame Publikation vor. Der Titel „Silhouetten“ will auf Um- und Schattenrisse verweisen, will also auf Menschenwege und Menschenschicksale neugierig machen: „Je bewusster wir ihnen folgen, umso näher kommen wir einander“, heißt es im Vorwort. Ein Traum nur, vielleicht. Die Autoren jedenfalls wissen, wovon sie schreiben, Kibuz vereint ja in der Berliner Straße vor allem russisch-jüdische Einwanderer.

Insofern ist diese zweisprachige Edition natürlich auch ein Ruf nach draußen. Sechsundzwanzig Autoren, fast hundert Gedichte, acht Prosabeitrage und eine eher dezente Illustrierung durch Sibylle Boden-Gerstner machen sie für Kenner zur Schönsten unter den dreien – so sieht es wenigstens Literaturkollegiums-Chef Walter Flegel.

Bekannte Autoren stehen neben Debütanten, Innerlichkeit neben Weltaussage, ein wollendes Ich neben dem leidenden, Russisch neben Deutsch. Schon kurios, wenn man weiß, dass sich hier die sprach- und poesiekundigen Kollegen aus Russland und Deutschland gegenseitig übersetzt haben. Wegen eines unerwarteten Geldsegens soll Nummer vier dieses „Märkischen Mosaiks“ übrigens in Kürze folgen.

Lebenswege, Silhouetten: Zum Beispiel von Marianne Schmidt, die noch im fortgeschrittenen Alter lernt, ihr immer kosmopolitischer werdendes Berlin „Mit anderen Augen“ zu sehen. Walter Flegel treibt indes in wohlgesetzten Versen die Sorge, sein Rügen könne angesichts von Touristenströmen bald nicht mehr zu erkennen sein. Im „Hühnergott“ findet er die beiden Seiten eines jeden Dings, auch seine eigenen.

Viatscheslav Korenwein treibt Unruhe. Er mag nicht „für jeden Tag ein anderes Gesicht, für jeden Anlass eine andere Maske“ haben. Nur kein Scheme werden, nicht Silhouette! In einer anderen Dichtung lässt er Scharf- und Stumpfsinn an einer Kreuzung aufeinanderprallen, schauend, was nun passiert.

Eher fremd nimmt man „Vorgefühl“ von Nikolai Epstein auf: Noch einmal scheint ihm in seiner Erinnerung alles wie früher zu sein, doch etwas fehlt – „ach wie ich dich vermiss! Bald aber folge ich dir ohne Qual“. Im Kontrast dazu die temperamentvolle Natalia Gorbatyuk. Die Huldigung ihres Enkelkindes ist voller Wärme, und ihr köstliches „Haushalts-Sonett“ endet mit den Worten „Wer meine Verse wie mein Essen mag, dem koche ich Sonette jeden Tag“. Sie schreibt richtig gute Sachen. Dieser Band präsentiert aber nicht nur Lyrik und Prosa: Valeriy Savins Lied „Tanzgeflüster“ hat Chanson-Qualität! Neben Walter Flegel und Elke Hübener-Lipkau, kürzlich erst im Alten Rathaus gehört, ist auf deutscher Seite auch Maik Altenburg ganz interessant, ein Mann, der Friedensworte an den Bruder in den Wind spricht und so herrlich ungeschickte Liebeserklärungen machen kann: Er würde der Liebsten allzu gerne ein paar Laternen pflücken, „aber du weißt ja, mein Rücken...“.

Am Dienstagabend wurde dieses Buch im Lichthof des KIBUZ zweisprachig präsentiert. Ein Ruf nach draußen? Auch bei dieser Veranstaltung war man wieder einmal unter sich geblieben.Gerold Paul

Gerold Paul

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