Kultur: Silvesterüberraschung
Chaplins „City Lights“ mit dem Filmorchester
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Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. Eine Überraschung, mit der keiner gerechnet hatte, beendete das Jahr 2008 im Nikolaisaal. Schon seit Wochen war der Saal für das Filmlive-Konzert am Silvesterabend mit dem Chaplin-Klassiker „Goldrausch“ ausverkauft. Kein Wunder, schließt gilt Goldrausch vielen als einsamer Höhepunkt von Chaplins Stummfilmkunst. Doch kaum hatte man das Foyer erreicht, erfuhr man, dass nicht „Goldrausch“ sondern Chaplins „City Lights“ gezeigt werde.
Wie es hieß, waren die Orchesternoten beim Zoll steckengeblieben. Was diese abrupte Änderung für die Musiker des Filmorchesters Babelsberg bedeutete, lässt sich nur erahnen. Zumal „City Lights“, der bereits zur Zeit des Tonfilms entstand, von Charlie Chaplin persönlich äußerst aufwendig orchestriert wurde. Doch an diesem Abend zeigte sich, dass die Musiker des Filmorchesters Babelsberg echte Profis sind, die so schnell nichts erschüttern kann. Unter der Leitung des erfahrenen Filmmusikdirigenten Helmut Imig gelang eine fantastische Aufführung. Selbst kleinste Details wie Pfiffe, Hupen, Schläge und Klavierdonnern saßen passgerecht. Auch die großen melodischen Linien, die schnellen Rhythmen und die zahlreichen Soloeinsätze von Bläsern und Streichen klappten hervorragend.
In „City Lights“ spielt Charlie Chaplin den einsamen Tramp, der mit den Regeln und Gesetzen der Großstadt in Konflikt gerät. Von Anfang bis Ende ist dieser kleine Mann ein Außenseiter, ein Spielball der Starken und Reichen. Für ein blinde Blumenmädchen, das ebenso verloren und allein wie er selber ist, setzt er sein Leben ein. Um das Geld für ihre Heilung zu besorgen, arbeitet er als Straßenfeger, kämpft einen absurden Boxkampf und wandert sogar in Gefängnis. Aus dem armen Mädchen ist schließlich die Besitzerin eines prachtvollen Blumengeschäfts geworden. Aber auch sie hat sich ein gutes Herz bewahrt und möchte dem lumpigen Tramp, der da plötzlich vor ihrem Schaufenster steht, eine Blume und etwas Geld schenken. Als sie seine Hand berührt, erkennt sie in ihm ihren einstigen Helfer. Mit dieser Szene und der Großaufnahme eines schmerzlich-glücklich lächelnden Charlie endet der Film. Für viele war das zu viel. Man warf diesem Film Rührseligkeit und Egozentrik vor.
Doch in Chaplins Filmen, ganz besonders in City Lights, besitzt die Sentimentalität eine Art von Transparenz, die durchschaut werden kann. Es ist nicht die unbeständige Gefühlsduselei des Millionärs, sondern tiefes, unwandelbares Gefühl. Erst durch ihre Einbettung in tragikkomische Szenen können die sentimentalen Höhepunkte ihre Wirkung entfalten. „In „Lichter der Großstadt“ sagt Chaplin Dinge, die er nie zuvor sagte und auch niemals wieder sagen wird“, bemerkt Robert Payne in „Der große Charlie“. Er stellt fest, dass Chaplin dabei auf die Tradition der Commedia dell?Arte zurückgreift: „Das Blumenmädchen ist die reine Columbine, der Millionär der Harlekin, und Charlie endlich ist der Pierrot, der ewige Dichter und Verbannte, der Anbeter des Mondes, der Besitzer verborgener Weisheit.“ Es ist wohl kein Zufall, dass mit dem Film „City Lights“ Chaplin erstmals als Komponist einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde. Er wollte, wie er sagte, „elegante und romantische Musik““ schreiben, die den Charakter des Tramps kontrastieren sollte. Situationsbezogene musikalische Gags kommen zwar auch vor, doch ganz überwiegend ist die Musik stimmungsvoll. Sie drückt das aus, was mit Worten, nicht gesagt werden kann und setzt damit auch bewusst ein Statement gegen den Tonfilm. Der Beifall im Nikolaisaal bewies, dass die Silvester-Überraschung gut angekommen ist. Babette Kaiserkern
Babette KaiserkernD
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