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Traumzauber. Moritz (Friedemann Eckert) und die sprechende Katze Kiki (Charlotte Sieglin) lassen schillernde Seifenblasen steigen.

© HOT/HL Böhme

Kultur: So viel Farben hat die Welt

„Moritz in der Litfaßsäule“ von Christa Kozik und Rolf Losansky hatte am Hans Otto Theater Premiere

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Er mag Zahlen nicht. Sie sind grau wie Mäuse. Moritz liebt das Farbige: Schmetterlinge, Blumen, schillernde Seifenblasen. Gern verliert er sich in dieser bunten Welt, folgt seinem dritten Auge: dem Auge der Fantasie, das den Erwachsenen verloren geht. So jedenfalls heißt es in dem Buch „Moritz in der Litfaßsäule“, das die Potsdamer Autorin Christa Kozik 1980 schrieb. Gemeinsam mit Regisseur Rolf Losansky hat sie es für die Bühne bearbeitet und am Donnerstag kam diese Fassung in der Regie von Kerstin Kusch als kurzweilige, höchst unterhaltsame und überhaupt nicht angestaubte Inszenierung am Hans Otto Theater zur Premiere.

Nicht nur das abenteuerlich-turbulente Geschehen rings um die sich drehende dicke Litfaßsäule hielt in Schwung. Auch das aufgeweckte Kinder-Publikum warf die ihm zugeworfenen „bunten Blicke“ beherzt zurück. „Ich habe eine Schokolade in meinem Rucksack“, rief ein kleiner Junge ganz aufgeregt, als sich Bühnenheld Moritz von Zuhause davonstiehlt: mit Schlafsack und eben einer Tafel Schokolade, die ja bekanntlich die Stimmung aufhellen soll. Doch dieser Strubbelkopf Moritz, dessen Haare genauso wild sind wie seine Looping drehenden Träume, findet nicht nur in der Schokolade Trost, um über seine Enttäuschung hinwegzukommen: Über den Verrat des Vaters, dem er sich anvertraut hat, als er die Fünf in Mathe bekommt und das Heft mit der schrecklichen Note an die Enten verfüttert. Zeigte dieser dauergestresste Vater eben noch Verständnis, verspricht er wenig später dem Mathelehrer Geiger, dass er sich seinen Sohn mal vorknöpfen werde. Da kann man doch nur ausreißen. Moritz zieht sich in eine Litfaßsäule zurück, findet hier Freunde, die ihm die Augen öffnen helfen: wie Kiki, die sprechende Katze; Bella, die schöne Seiltänzerin oder den weltenbummelnden Straßenfeger.

Im schlichten Bühnenrund mit den Wolkenwürfeln von Matthias Müller, wo die niedrige, verschiebbare Balustrade mal Frühstückstisch, mal Brunnenrand, mal Tanzseil ist, verschmelzen Traum und Wirklichkeit auf fast unmerkliche Weise. Die von Christa Koziks Schwiegertochter Anja Kozik choreografierten tänzerischen Einsprengsel lassen die Gedanken weiter fliegen und paaren sich mit Spielwitz und Fantasie der Inszenierung. Bedrückend, wenn die um die leere Haushaltskasse streitenden Eltern wie Löwen aufeinander losgehen. Befreiend, wenn sich Moritz, Eltern, Polizist und Lehrer beim Seifenblasen über die Bühne schwebend plötzlich ganz nahe kommen.

Die fünf Schauspieler ringen ihren 14 Rollen immer neue Facetten ab, schaffen wie Florian Schmidtke als Vater und Straßenfeger oder Charlotte Sieglin als Mutter und herrlich schräge, herrschaftliche Stadtkatze Kiki durchaus griffige Charaktere. Auch Sinja-Kristina Dieks füllt ihre Rollen bestens aus: als Moritz’ kesse, aufgedrehte Schwester Suse oder die sich nach einem festen Zuhause sehnende Seiltänzerin Bella. Jan Dose changiert mit viel Humor zwischen strengem Lehrer und liebenswürdig trottligem Polizisten. Und an seiner Seite stets Hund Dracula, ein Wollknäuel mit aufgesetzter Polizeisirene, Liebling des Publikums.

In Friedemann Eckerts Darstellung findet Moritz genau die Verträumtheit, Wärme und kindliche Neugierde, die ihn zu einem blutvollen aufgeweckten Jungen werden lässt, mit all seinen Ängsten und wichtigen Fragen an die Welt. Funkeln die Sterne, weil dort Diamanten sind? Wo ist der Wind, wenn er nicht weht? Moritz, der „Schneckenkönig“, ist zwar langsam im Denken, doch er betrachtet die Welt abseits vorgegebener Wege. Auch wenn die Erwachsenen sagen: „Träume nicht. Tagträumer verschlafen das Leben“.

Die Poesie der Literatur, die bereits in der Defa-Verfilmung von Rolf Losansky 1983 bildkräftig auf die Leinwand kam, behauptet sich auch auf der Bühne, selbst wenn manche Botschaften etwas zu dick aufgetragen klingen. Gerade am Ende, wenn die flotte Kiki zu Moritz sagt: „Man muss auch verzeihen können“ und ihn auffordert, der Familie wieder die Hand zu reichen, wirkt das sehr pädagogisch belehrend und bringt den ansonsten griffigen, authentischen Spielfluss mit sinnfälliger Pantomime, aufgedrehter Zirkus-Clownerie und kantigen Robotern zu einem recht abrupten Happyend.

In der gut 70-minütigen Aufführung gibt es keinen Leerlauf. Auch auf die eingängige, schwungvolle Musik von Christoph Kozik, Enkel der Autorin, fahren die Kinder ab, selbst wenn es keine richtige Disco-Musik ist, wie ein Junge einwirft.

Diese theatermachenden Erwachsenen, die Moritz Bühnenkraft verleihen und bei seinem Erwachsenwerden farbenreich begleiten, haben sich offensichtlich ihr drittes Auge bewahrt.

Für Kinder ab sechs Jahre. Nächste Vorstellungen am heutigen Freitag um 10 Uhr sowie vom 26. bis 30. September, jeweils 10 Uhr, in der Reithalle, Schiffbauergasse

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