Kultur: Spiel mit der „russischen Puppe“
Hans Otto Theater: Freistil mit „Leben digital – digitales Leben“ im Jungen Theater
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Schon der Anfang zeigt, worum es dem Abend eigentlich geht. Da steht ein Mann (Alexander Weichbrodt) mit dem Rücken zu den Zuschauern in der Reithalle A. Er sieht nackt aus in seiner fleischfarbenen Unterhose: Ein Mensch, ungeschützt, verletzlich. Dabei bleibt es nicht, der Mensch kostümiert sich. Wird zum Fellknäuel mit Wikingerhelm, zur vollbusigen Blondine, zum bedrohlichen Vampir, zum muskelstrotzenden Supermann in Goldschuhchen und Lederjacke. Jetzt ist der Mensch zwar weniger nackt, aber irgendwie auch weniger menschlich. Sein Gesicht, ob lächelnd oder zähnefletschend, bleibt eingefrorene Grimasse.
Kein Wunder. Die Gestalt, die Alexander Weichbrodt am Anfang von „Leben digital – digitales Leben“ spielt, ist kein menschlicher Charakter, sondern Wunschdenken. Seine Grimassen und Kostüme sind Abziehbilder der Realität. Kopfgeburten, die mit der Wirklichkeit nichts gemein haben. Die „Wirklichkeit“ in Gestalt von Peter Wagner sitzt in der szenischen Einrichtung von Anne-Sylvie König daneben. Zusammengekauert auf einem Stuhl, einen Laptop auf den Knien, scheint er Alexander Weichbrodt fernzusteuern. In der Sprache des Internets ist Peter Wagner der „User“, Alexander Weichbrodt sein „Avatar“. Ein Avatar ist das erfundene Alter Ego, mit dem Internetnutzer sich in der digitalen Welt „Second Life“ bewegen können. Hier ist alles möglich: Per Mausklick ist man vollbusige Frau, oder frau muskelstotzender Mann, wechselt Kostüme, Haarfarben, Geschlecht. Wie im Theater eigentlich. Im Unterschied zum Theater aber gibt es hier weder Schweißperlen noch Texthänger, keine Rollen für Dicke, Hässliche, Alte. „Second Life“ ist eine Welt der Ideale.
Internet und Theater, Digitalität und Bühnenpräsenz – eine ungewöhnliche Verquickung. Genau diese scheinbare Unvereinbarkeit hat Anne-Sylvie König, Chefdramaturgin am Hans Otto Theater, gereizt. Wo liegen die Parallelen zwischen dem „Auftritt“ im Internet und dem Auftritt im Theater? Hat das Theater ausgedient, jetzt wo neue Formen der Unterhaltung jederzeit möglich sind, bequem und billig, vom heimischen Computer aus? Imitiert die digitale Welt die Wirkliche oder andersherum? Um diesen Fragen nachzugehen, richtete die Universität Potsdam auf Königs Initiative hin das medienwissenschaftliche Seminar „Internet Reloaded“ ein. Unter der Leitung von Prof. Dieter Mersch gehen darin neun Studenten Königs Fragen nach und erleben „Second Life“ am eigenen – virtuellen – Leib. Aus den Eindrücken und Gedanken, die die Studenten während ihrer Monate in „Second Life“ notiert haben, will König ein Stück schreiben. Titel: „Internet Reloaded“. Premiere ist im Juni.
„Leben digital – digitales Leben“ gab Einblick in einen Arbeitsprozess. Die Veranstaltung war die erste in einer neuen Reihe des Jungen Theaters: Universität und Theater. Passend kündigte sie sich als „Performing Lecture“ an, als Mischform aus Vortrag und Vorspiel, Vorlesen und Vormachen. Dabei kamen denn auch alle Beteiligten zum Zuge. Anne-Sylvie König stellte einleitend die recht offensichtlich rhetorische Frage nach dem Sinn von Theater in heutiger Zeit, Professor Mersch verlas eine Rede zu Digitalität, die seine Studenten über „Second Life“ live kommentierten. Wobei ihre Avatare – sicher nicht zufällig „Dieter“ und „Anne Sylvie“ – die Bewegungen der Studenten im Theater imitierten und nebenbei die Zuschauer visuell mit der Ästhetik von „Second Life“ vertraut machten. Ein verwirrender, spielerischer Reigen, dessen Herz Alexander Weichbrodt und Peter Wagner bildeten. Die Schauspieler nämlich imitierten auf der Bühne die staksigen Bewegungen der Avatare, die ja die Studenten imitierten.
So entstand, was Anne-Sylvie König den Effekt der „russischen Puppe“ nennt: Die Bühne kommentiert die digitale Wirklichkeit, die wiederum die Bühnenrealität kommentiert. Die Botschaft: Soviel Verwirrspiel geht nur im Theater. Womit wir wieder beim Menschen wären. Ohne diese verletzliche, wandelbare und unberechenbare Spezie, lernen wir, sind Auftritte ganz schön langweilig. „Second Life“ mit seinen so idealen, so öden Figurinen macht“s vor. Lena Schneider
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