Kultur: Spielen mit der Tradition
„3 Soli, 3 Kontinente“ bei den Tanztagen der fabrik
Stand:
Die weiße Gestalt hockt auf der Bühne, mit dem Rücken zum Publikum. So verharrt sie, eine in die Knie gegangene Statue, unnahbar. Die Annäherung passiert dann doch, behutsam, millimetergenau: Die rechte Hand löst sich aus der Starre, winkt, ballt sich zur Faust, mahnt mit dem Zeigefinger. Eine Kontaktaufnahme. Dann wagt sich der ganze Arm, schlägt schlängelnde Wellen. Die Bewegungsversuche eines einflügligen Vogels.
Die Szene steht ganz zu Anfang in „Listen to me!“, dem ersten Solo des etwas nüchtern betitelten Abends „3 Soli, 3 Kontinente – Zwischen Tradition und Moderne“. Ihr gemeinsames Thema: angesichts einer allgegenwärtigen Konvention eine unabhängige Bewegung finden, also im künstlerischen Sinne „laufen lernen“. „Listen to me!“ von der Ungarin Virág Dezsö ist das eigenste, frechste der drei. Immer wieder scheint sie den Ernst des Publikums herrlich zu foppen. Wenn sie in klumpigen Wanderschuhen und weißer Tracht über die Bühne stakst und uns ihre orange gestreifte Unterhose entgegenreckt. Wenn der Rock zum Kopfschmuck wird und ihr Gesicht wie das einer Ikone umrundet. Wenn sie sich dann langsam um die eigene Achse dreht, vorne ernstes Madonnenantlitz zeigt, hinten gestreifte Unterhose. Tradition und Moderne in einer Figur. Wenn dann die Tänzerin verschwindet und nur ihr Abbild bleibt, in Nahaufnahme auf einer Leinwand. Dann sehen wir sie, und sehen sie doch nicht. Deutlicher, klüger kann man Wirklichkeitsfremde Ikonisierung – von Weiblichkeit, von Tradition – kaum zeigen.
Von Ungarn geht es mit Nova Bhattacharya nach Kanada und Indien. Die Kanadierin indischer Abstammung tanzt José Navas’ Choreographie „Calm Abiding“ – in etwa: „ruhiges Verweilen“. Die fließenden Bewegungen des indischen Tanzstils Bharatanatyam werden vermischt mit moderner Brechung, Wiederholung, Ironisierung. Der Titel selbst steht in ironischer Spannung mit dem Stück: „Calm Abiding“ ist von der meditativen Ruhe, die der Begriff normaler Weise bezeichnet, weit entfernt. Zwar beginnt Nova Bhattacharya mit majestätischer Ruhe, mit geschlossenen Augen und präzise ausgewogenen Handbewegungen. Als würde sie dem Publikum eine Geschichte erzählen, in einer Zeichensprache, die wir nicht entschlüsseln können. Aber dann knallen Rhythmen aus den Lautsprechern. Von meditativer Ruhe keine Spur. Und die Lautsprecher-Klänge haben wenig mit indischer Musik gemein. Es sind rhythmisierte Worte, Geräusche und, am schönsten: glucksende Lacher in Endlosschleife. Wird verlacht, ausgelacht, gelacht aus Spaß? Das bleibt das Geheimnis des Solos. Am Ende verschwindet Nova Bhattacharya wieder im Bühnendunkel, eine schelmische Besucherin aus einer anderen Welt.
Auch Souleymane Badolo tritt aus dem Schwarz der Bühne. Aus drei verschiedenen Richtungen versucht er den Auftritt, bevor er sich ganz auf die Bühne wagt. Darum geht es im Beitrag des Tänzers aus Burkina Faso: um die Schwierigkeit der ersten Schritte – egal ob die eines Kindes ins Leben oder die eines Landes aus der Armut. „Géôlo oder Das Gehen“ heißt sein Beitrag, und Gehen lernt der Mann auf der Bühne schnell. Bald reißen ihm die Beine vor lauter Übermut den Oberkörper weg, die Panflöte im Lautsprecher pfeift immer lauter und heiserer, je wilder er sich bewegt.
Aber wohin jetzt? Mit den Füßen streicht er Wegweiser aus erdiger Farbe auf den Bühnenboden. Erst gerade Linien, die ein symmetrisches Muster ergeben und ein klares Ziel zu verfolgen scheinen. In der Mitte der Bühne entsteht eine Weggabelung: welchen Pfad jetzt weiter? Und die Schwierigkeiten fangen erst an: Weil jeder weitere Schritt eine Spur hinterlässt, verwischen sich die Pfade bald gänzlich, aus der Logik der Diagonalen wird ein Haufen ungeordneter Fußstapfen. Klare Muster gibt es letztendlich nicht, sobald Realität und Theorie zusammentreffen. Das haben alle drei Stücke ahnen lassen. Auch, dass Tradition zwar sein mag, woher wir kommen, man aber mit ihr spielen muss, um sie lebbar zu machen. Und ja nicht zu zaghaft.
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