Kultur: Sprache als Wegweiser ins Nichts
Martine Pisanis „Hors Sujet ou le bel ici“ in der fabrik gibt einen eindrücklichen Auftakt für die „Neuen Triebe“
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Eigentlich sollte es unmöglich sein, sich an diesem Abend zu verirren. Die Pariser Choreographin Martine Pisani hat ihren abstrakten Bewegungsstudien nämlich mit Wegweisern ausgestattet, die dem Publikum mit geradezu überdeutlicher Geste das Thema der jeweiligen Szene kundtun. Szene eins zum Beispiel: Drei Männer stolpern aneinander vorbei quer über die Bühne, mit den Armen tasten sie ungeschickt den Raum um sich ab, als seien sie blind. Plötzlich dreht sich einer von ihnen – unser „Wegweiser“ – zu uns und erklärt: „The fog“ - der Nebel. Wendet sich ab und ordnet sich wieder in die Szene ein. Lacher im Publikum. Über den ironiefreien Ernst der Aussage? Über den nahtlosen Übergang zwischen Zeigen und Erzählen? Oder weil plötzlich jemand nonchalant die Lösung des Rätsels herausplaudert, an dem wir als Zuschauer gerade noch knabbern mussten? Zwischen diesen Fragen gehen wir also doch verloren, von der ersten Szene an.
Martine Pisanis neues Stück „Hors sujet ou le bel ici“ (Thema verfehlt oder das schöne Hier) ist voller solcher Lacher, die sich aus dem scheinbar Selbstverständlichen ergeben. Voller verpuffter Pointen und rätselhafter Situationen, die mit Lösungen versehen werden, die einfach zu einfach scheinen. Es ist eine solche Ahnung, dass sich etwas Anderes, Ungesagtes hinter dem banalen Geschehen auf der Bühne verbirgt, die Pisanis Arbeit so spannend macht. Weil sie die nächstliegende Lösung zu einer Szene selber anbietet, muss sich das Publikum auf die Suche begeben: Was ist da sonst noch?
Sprache hat in den Stücken von Pisani nichts Erklärendes. Ganz im Gegenteil. Sie wird als Falle benutzt, die Erklärungen vortäuscht, wo sie eigentlich verschleiert. So geht es in der ersten Szene nur bedingt um Nebel, sondern vielmehr um das Einander-Verpassen, um Kurzsichtigkeit im übertragenen Sinn, das Ringen um „Klarsicht“. Und natürlich um das Spiel mit Performativität: wenn man durch sein Spiel behauptet, dass es nebelig ist und lebe darin auflebt, obwohl man weiß, dass es nur ein Spiel ist. Was zählt, ist letztendlich nur der Moment des Spielens selbst: das „schöne Hier“ des Titels eben.
Dass Tanztheater traditionell mit musikalischen Rhytmen in Verbindung gebracht wird, lässt sich Pisani egal sein. Und zu Recht. Die grandiose Lust am Augenblick ist bei Pisanis Trio in jeder Szene auch ohne bgleitende Musik spürbar und sogar vermehrt. So lauschen wir der Musikalität der französischen, englischen, niederländischen, spanischen und portugiesischen Sprachfragmente um so intensiver nach. Und die Stille erhält nebenbei ihre ganz eigene Hauptrolle. Für manche Zuschauer eine nicht ungewöhnliche Besetzung. Als es einmal eine minutenlange Phase der absoluten Bewegungslosigkeit gibt, werden einige im Publikum ungeduldig. Auch hier fehlt der passende Wegweiser nicht: „Time is passing by“ kommentiert einer der Tänzer und spricht so aus, was wir dachten. Die Spannung löst sich in erleichterte Lacher. Das Gespür dieser Choreographin und ihrer Tänzer für die Erwartungen und Bedürfnisse der Zuschauer ist erstaunlich: Auch und vor allem dann, wenn sie sich entscheidet, ihnen nicht zu entsprechen.
Wenn das Programm der „Neuen Triebe“ also einlädt, „die explosive Energie des Frühlings mal anders zu erleben“, dann hat die fabrik nicht zu viel versprochen. Mit Martine Pisani ist der neuen Tanzreihe der fabrik ein Auftakt gelungen, der vielversprechender kaum sein könnte. Explosionen müssen nicht immer laut knallen, sie müssen nachhallen.
Lena Schneider
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