Kultur: Spurensuche
Carola Hähnel-Mesnard sprach über Flucht und Vertreibung in der frühen DDR-Literatur
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Den großen Roman über die Massenmigration aus den ehemaligen Ostgebieten hat es in der DDR-Literatur der 1950er Jahre nicht gegeben. Offiziell hießen diese insgesamt vier Millionen Flüchtlinge und Vertriebene, die in der Sowjetischen Besatzungszone Aufnahme fanden, ohnehin „Umsiedler“. Was deren persönliche Erfahrungen ausblendete und allein auf deren Integration in die neue sozialistische Gesellschaft als auch auf die kompromisslose Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze abzielte. Blind für die tatsächliche Diskrepanz zwischen politischem Anspruch und gesellschaftlicher Praxis fand die staatliche Unterstützung für die Umsiedler schon 1953 ihr Ende. Die diversen Schwierigkeiten blieben indes noch lange bestehen, doch galt die Integration fortan als abgeschlossen und das Thema wurde damit auch für die DDR-Kulturpolitik zum Tabu. Dennoch lassen sich hie und da zumindest Spuren von Flucht, Vertreibung und Ankunftserlebnissen in der frühen DDR-Literatur finden. Einige Beispiele davon präsentierte die Literaturwissenschaftlerin Carola Hähnel-Mesnard von der Universität Lille den interessierten Zuhörern mit ihrem Vortrag am Donnerstagabend im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Erinnern unerwünscht. Vertriebene in der DDR“.
Es ist erstaunlich, dass ihre Spurensuche gleich innerhalb dreier verschiedener Arten der DDR-Literatur erfolgreich gewesen ist, selbst da, wo man es vielleicht nicht sofort erwartet. Etwa bei Anna Seghers, deren Texte zur Hochliteratur gezählt werden, wie die später auch von Heiner Müller aufgegriffene Erzählung „Die Umsiedlerin“ (1950), die keinesfalls nur als parteikonforme Durchhalteparole für den Wiederaufbau gelesen werden sollte. Denn wie Carola Hähnel-Mesnard an mehreren Textbeispielen beweist, schildert Seghers hier ganz deutlich die erbärmlichen Lebensbedingungen der Flüchtlinge, die anhaltenden Reibereien mit den Einheimischen und sogar die Sehnsucht nach Rückkehr in die Heimat. Geschieht das auch aus lehrhafter Absicht, so doch unter Verzicht auf Wirklichkeitsverklärung.
Diese findet sich schon eher in den schlechterdings unlesbaren sogenannten Betriebsromanen, in denen recht häufig Umsiedler als positive Arbeiterhelden vorkommen. Durch hervorragende Aufbauleistungen gelingt all diesen Umsiedler-Figuren die Integration und verbessern sich ihre Lebensbedingungen, was nachweislich keinesfalls der Realität entsprach. Dennoch wird in diesen zähen Schwarten, etwa in Karl Mundstocks „Helle Nächte“ (1952) oder in Hans Marchwitzas „Roheisen“ (1955) zumindest die Vergangenheit dieser Umsiedler nicht weggelassen. Die sich Integrierenden gestehen sich bisweilen den Heimatverlust ein und erinnern sich durchaus an Flucht und Vertreibung. Ein Aspekt, der dann ganz im Mittelpunkt der trivialen Unterhaltungsliteratur steht, wo die Leidensschicksale Einzelner vor dem historischen Hintergrund der Flucht vor der heranrückenden Roten Armee geschildert werden, wie etwa in Annemarie Reinhards überaus erfolgreichem Roman „Treibgut“ von 1949 oder Kurt Türkes „Das Tor der Hoffnung“ von 1950. Natürlich wurde auch in diesen Unterhaltungsromanen die Integration in die sozialistische Gesellschaft bejaht, doch fand das verständlicherweise viel breitere Lesepublikum hier seine eigenen, oft traumatischen Erfahrungen widergespiegelt, sodass diese literarisch anspruchslosen Bücher ein höheres Identifikationspotenzial boten und heute womöglich auch die meisten Spuren zur Thematik Flucht und Vertreibung enthalten.
Weshalb sich aber in allen drei vorgestellten Literaturarten, trotz verordneter Tabuisierung, Doktrin und Zensurstrenge, überhaupt Spuren dazu finden lassen, das konnte sich auch die Dozentin in ihrem ansonsten sehr erhellenden und von den Zuhörern gelobten Vortrag nicht so recht erklären. Daniel Flügel
Daniel Flügel
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