Die Liebe ist eine seltsame Sache. Immer scheint sie auf der Flucht vor denen, die sie suchen und kaum glaubt man sie gefunden, entzieht sie sich. Oder wird entzogen. Und glaubt man sie entschwunden, findet sie sich wieder ein. Oder aber, und das ist der vertrackte Fall, um den es in „Enigma“ geht, sie entzieht sich, um bestehen zu können. Was die Beteiligten zwar unerfüllt lässt, aber immerhin den Glauben an das vollkommene Gefühl möglich macht, den eine real gelebte Liebe mit ihren unschönen, alltäglichen Banalitäten beständig untergräbt. Um diese zwei Arten der Liebe, und eine gute Handvoll anderer Schwierigkeiten, die sich irgendwo dazwischen ansiedeln, dreht es sich in dem Stück von Eric-Emmanuel Schmittzum Spielzeitauftakt im T-Werk.
Der Abend beginnt mit einer langen Stille. Zwei Männer stehen im schwarzen Bühnenraum, sehen einander nicht an, sondern am Publikum vorbei in eine unbestimmte Ferne. Der Eine nachdenklich, verschlossen, der Andere händeringend, fragend. Es ist kein vertraut-freundliches Schweigen, sondern eine Tortur, die peinigende Abwesenheit von Unterhaltung. Bald erfahren wir, warum. Der für ein Provinzblatt schreibende Journalist Erik Larsen (Chris Urwyler) ist zu Besuch bei dem in Abgeschiedenheit lebenden Schriftsteller Abel Znorko (Dominik Stein).
Znorko hat ein neues Buch veröffentlicht, einen Roman aus Liebesbriefen mit einer mysteriösen, unbekannten Frau. Larsen will nicht glauben, dass diese Frau eine reine Kopfgeburt ist und hofft dem Schriftsteller in einem exklusiven Interview das Geheimnis zu entlocken. Statt aber die Fragen des Journalisten zu beantworten, hüllt Znorko sich in Schweigen, störrisch, arrogant, gibt sich unnahbar.
Dennoch entspinnt sich ein zähes, zwischen ironischer Freundlichkeit und offener Antipathie gehaltenes Gespräch. Immer wieder verläuft es sich in Sackgassen. Genüßlich spielt Znorko seine intellektuelle Überlegenheit gegenüber Larsen aus, verharrt trotzig auf der weltabgewandten Position des Zynikers. Menschen mag er nicht, nur Wolken und Katzen finden Gnade vor seinem Urteil. „Liebe“, behauptet er, „ist nichts anders als eine Perversion der Sexualität“. Sie habe den Reiz eines Labyrinths, nicht mehr. Und überhaupt: „Glücklich, wozu?“ Den Schmerz braucht er zum Schreiben. Larsen sieht das anders. Der erst schwach und unterlegen Wirkende mausert sich zum füchsischen Beobachter und bohrenden Frager. So wird das Interview zur Seelenschau für beide Seiten. Wie zwei schicksalhaft aneinander Geklettete kommen die Männer nicht von einander los. Keiner will wirklich etwas preisgeben, aber beide wollen etwas von einander. Nur was? Ein Zufall ist das Treffen nicht, so viel ist klar. Aus der so wortkarg begonnen Begegnung wächst von Szene zu Szene ein Konversations-Krimi, der die Zuschauer auf eine Spurensuche ins Innerste der Charaktere schickt.
Da Unentrinnbare an Schmitts Stück ist, dass in jedem Satz eine mögliche Kehrtwendung für den Verlauf der Geschichte liegt. Glaubten wir gerade noch zu wissen, wie der Hase läuft, so entschlüpft er uns im nächsten Augenblick, um alles Gewusste in ein völlig neues Licht zu rücken. Regisseur Jens-Uwe Sprengel hat Schmitts Kammerstück eine geradezu kriminalistische Spannung gegeben. Im kargen Bühnenbild – ein Sofa, ein Stuhl – lenken weder Musik noch Requisiten von Text und Spiel ab. Die Schatten als ständige, oft übermannsgroße Begleiter auf dem schwarzen Bühnenvorhang sind eindrücklicher, bedrohlicher als jede Effektheischerei. Zwar ist Dominik Steins Znorko vielleicht etwas trotzig, zu sehr versteckter Schelm, zu brüsk in seinen Gefühlsübergängen und Chris Urwyler als Journalist mag einen Tick zu groß sein, wenn es um große Gefühle geht. Aber wie die beiden einander belauern und umschleichen, sprechen wollen, aber nicht können, an den Geheimnissen der Liebe rätseln ohne sie zu zerreden ist einfach berührend. Ein unterhaltsamer, fesselnder und runder Abend im T-Werk. Lena Schneider
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