Von Klaus Büstrin: Staub gewischt bei Goethe
Theater-Premiere II: Annette Pullen inszenierte „Clavigo“ am Hans Otto Theater
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Es ist nicht immer leicht, die in ihren fünf Akten ruhenden Klassiker zu reanimieren. Der manchmal gequälten Wiederbelebungen ist kein Ende. Anders bei der jungen Regisseurin Annette Pullen, die bei ihrem Debüt am Hans Otto Theater am Freitagabend Johann Wolfgang Goethes „Clavigo“ (1774) in einer Frische und Stringenz vorstellte, dass in knapp eineinhalb (pausenlosen) Stunden aller Staub davonflog. Schon in Magdeburg machte die Regisseurin darauf aufmerksam, dass sie schnelles Theater bevorzugt. Und somit wurde auch der Text dieses Trauerspiels abgespeckt, einige Rollen gestrichen, alles Überflüssige der Geschichte beiseite geschoben.
Der 24-jährige Johann Wolfgang Goethe schrieb „Clavigo“ 1774 als poetische Beichte, nachdem er seine Geliebte Friederike Brion sang- und klanglos verlassen hatte: „Dann hab ich ein Trauerspiel gearbeitet, Clavigo, moderne Anekdote, dramatisiert mit möglichster Simplizität und Herzenswahrheit; mein Held – ein unbestimmter, halb groß, halb kleiner Mensch.“
Goethes Drama vom Dilemma eines Karrieristen, der an den Intrigen und der Gefühlskälte der Eliten zugrunde geht – vollkommen veraltet könnte man meinen. In unserer Zeit macht man seine Karriere als Schriftsteller und Politiker schon gar nicht bei Hofe und in Barockschlössern, sondern in modernen Bürohochhäusern. Solch ein Gebäude ist zwar auf der Bühne in der nun endlich besucherfreundlich gestalteten Reithalle nicht zu sehen, sondern ein fensterloser quadratischer Kasten, in dem Clavigo seine schriftstellerischen und journalistischen Ergüsse fern der Realität verfasst. Bildlich wurde er mit einer weiten Landschaft bedacht. Der Bühnenbilder Jörg Kiefel möchte ihn als Sehnsuchtsort verstanden wissen. Ein Rückzugsort. In einen riesengroßen Sandkasten wurde er gestellt. Unfertige, zerrissene, schwankende Gestalten waten durch den Sand und werfen sich in ihn hinein. Sie kriegen keinen festen Grund unter die Füße. Es sind zumeist Egomanen, die sich in Rage reden, dann wieder wie coole Conférenciers agieren. Dass es Annette Pullen gelingt, eine zeitferne Tragödie im Heute zu verhaften ist bemerkenswert.
Clavigo, gerade zum spanischen Hofdichter aufgestiegen, ist jung, ehrgeizig, begabt und wieder solo. Die Französin Marie hat er trotz Eheversprechen nach sechs Jahren verlassen, nicht nur wegen schwindender Leidenschaft, sondern auch für die Karriere: Die kränkelnde Ausländerin steht seinem Verlangen nach Ruhm und Erfolg im Weg. Um seine entehrte Schwester zu rächen, kommt Maries Bruder Beaumarchais aus Frankreich. Doch Clavigo entgeht der Rache, indem er sich wieder mit Marie versöhnt. Alle scheinen glücklich, bis auf Clavigos Freund und Wegbereiter Carlos. Für ihn verhindert das bürgerliche Liebesglück Clavigos künstlerische Entfaltung und Politkarriere. Clavigo steht vor der heiklen Frage, ob er sein Versprechen ein zweites Mal brechen soll.
Der Clavigo des Holger Bülow – leider im Vergleich zu seinen Schauspielerkollegen sprachlich nicht auf der Höhe – ist ein Träumer, ein Weichling, eine Figur im Passiv. Mitunter wirkt er wie verloren, weiß nicht, wie ihm geschieht. Der Schwärmer hat keine Mitte.
Michael Schrodt als sein Busenfreund Carlos muss sich nicht sonderlich anstrengen, schon gar nicht intrigieren. Er, der große Einsager, hat den Dichterling im Griff. Ohne Carlos wohl kein Clavigo. Bedauernswerte Marie (Franziska Melzer)! Schnell ist der romantisch veranlagten Geliebten die Ruhe dahin, obwohl sie sie äußerlich bewahren will. Sie ergibt sich in ihr Schicksal, lächelt marionettenhaft noch im größten Leid. Marie bricht das Herz über den erneuten Treuebruch des Geliebten. Die Regisseurin gönnt Marie und Clavigo eine schöne Traumszene. Sie drehen sich, fassen sich an und die eingespielte Musik oder die live gesungenen Liebeslieder zur Gitarre vermitteln einen schönen Schein. Dem traut letztendlich der bedächtige und ungehörte Hausgeist Buenco (Philipp Mauritz) nicht. Sophie (Friederike Walke) hingegen beschwört das Glück ihrer Schwester Marie. Aus dem aalglatten und kühlen Beamten Beaumarchais, Maries Bruder, (Florian Schmidtke), der Rache an Clavigo nehmen will, springen rhetorische Funken. Eine leise Ironie schwingt sich über die Szene.
Doch am Ende sind alle kaputt. Marie stirbt an gebrochenem Herzen: „Mein Herz, mein armes Herz“. Und Clavigo? Der wird nicht, wie Goethe es vorgesehen hat, das Mordopfer von Beaumarchais. Der Dichter erobert die Karriereleiter als Politiker, geht dabei über Leichen. Am Schluss gibt es keinen Goethe, sondern Joschka Fischer und dessen Rede als Außenminister zum Afghanistan-Krieg vor dem Bundestag. Und dies wirkt plötzlich wie aufgesetzt, so als ob die Regisseurin dem Zuschauer noch einmal deutlich machen möchte: Das Stück spielt heute. Langer Beifall für die beeindruckenden Schauspieler und das Regieteam.
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